Gegen eine Vereinnahmung Walter Benjamins durch den Rassemblement National

Klaus Staeck protestiert gegen die Vereinnahmung des Gedenkens an Walter Benjamin durch die französische Rechte und erklärt sich solidarisch mit dem Brief der französischen Intellektuellen, veröffentlicht am 30. Juni in “Le Monde”.

Tribune pour Walter Benjamin : « Si l’ennemi triomphe, même les morts ne seront pas en sûreté… »

»Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.«
Für Walter Benjamin

Offener Brief

Knapp 80 Jahre trennen uns von diesen Worten, die heute unheilverkündend klingen.

Nach dem „escape game“ (Fluchtspiel) Portbou’s getreu dem Motto “Rettet Walter Benjamin”  – einem obszönen Rollenspiel, das die Teilnehmer einlud, seine letzten Tage noch einmal zu erleben –  folgt nun die dunkle, viel ernstere Zeit einer ganz anderen Ordnung, die Zeit einer neuen Instrumentalisierung des Schicksals des deutschen Philosophen, der sich umgebracht hat, um dem Nationalsozialismus zu entkommen. Ein Verrat ganz anderen Ausmaßes.

In der Tat entdecken wir an der Wende im Programm von Louis Aliot, Abgeordneter des „Rassemblement National“( Nachfolgeorganisation des Front National, CWA) und Kandidat “ohne Etikett” für das Rathaus von Perpignan, – nicht ohne Schaudern -, seinen erklärten Willen, das “Kunstzentrum Walter Benjamin”, das derzeit geschlossen ist, wieder zu eröffnen, um es zu einem Ort zu machen, der „der Schöpfung und der Pflicht zur Erinnerung gewidmet ist (Einrichtung von Ausstellungen, Konferenzen, Künstlerresidenzen, Schöpfungen vor Ort…)“. Werden wir es zulassen, dass Walter Benjamin zur Beute, zur Trophäe, zur Kriegsbeute wird, in dem gewaltigen Versuch der Entdämonisierung des „RN“, der zu diesem Zweck nicht zögert, sich zusätzlich zum jüdischen Gedächtnis, des Schicksals der Zigeuner und der tragischen Geschichte der spanischen „Retirada“ (Der Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs. CWA) zu bemächtigen?

Erinnerung und Geschichte verpflichten. Sie verpflichten uns, und erinneren daran, dass sich die Partei von Herrn Aliot im Erbe der nationalistischen, politischen Bewegungen befindet, vor denen Benjamin in den 1930er und 1940er Jahren zuerst in Deutschland, dann in Frankreich und in Europa gezwungen wurde zu fliehen, die ihn verfolgten und gegen die er immer wieder aufstand. Einer unter vielen anderen „Namenlosen“, der für sie Zeugnis ablegen muß.

Es ist dringend notwendig, sich ihrer und ihrer Kämpfe zu erinnern und in unserer Gegenwart dieses schreckliche Urteil in vollem Umfang zu ermessen: »Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« [W.B. Über den Begriff der Geschichte, (1940) GS I.1, S. 695]

Es ist dringend notwendig ihnen den Namen Walter Benjamin zu entreißen – um ihn zu schützen – vor den Händen der äußersten Rechten und all derjenigen, die die Geschichte der Unterdrücker von gestern umschreiben wollen, während sie Ausländer und Migranten in all ihren Formen stigmatisieren.

Wir sind davon überzeugt, dass die Erinnerung an das, was sich in Port Bou, nur einen Steinwurf von Perpignan entfernt, abgespielt hat, für Walter Benjamin wie für so viele andere, uns dazu verpflichtet, mit größter Eindeutigkeit zu reagieren. „No pasaran!“ [„Sie kommen nicht durch“: Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg. CWA)]

In diesem Geist des Widerstands gegen alle Formen des Vergessens und der Manipulation unseres kollektiven Gedächtnisses, widersetzen wir uns entschieden und mit allen verfügbaren Mitteln, dagegen, dass der Name Walter Benjamins während der Legislaturperiode eines Bürgermeisters des „Rassemblement National“ im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung eines Kunstzentrums in Perpignan in Verbindung gebracht wird.

(Übersetzung Claudia Wörmann-Adam)

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Wem gehört Walter Benjamin?“

Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlichen wir einen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übermittelten Leserbrief zum Artikel „Wem gehört Walter Benjamin?“ von Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft

„Wer hat denn welches Recht, sich an wen wie zu erinnern?“ fragt Simon Strauß unter der irreführenden Überschrift „Wem gehört Walter Benjamin?“ vom 4. bzw. 5. August in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (faz.net). Falls Benjamin überhaupt jemandem „gehört“, dann höchstens seiner Familie, d.h. seinen Nachkommen. Die allerdings haben sich eindeutig geäußert, was Simon Strauß verschweigt. Die Enkel sagen: „Es ist eher eine Untertreibung zu sagen, dass die Vorstellung, dass der Name unseres Großvaters benutzt wird, um die Ideale und Ideen der extremen Rechten zu fördern, uns mit Schrecken erfüllt. Aliot und das Rassemblement National stehen für alles, wogegen unser Großvater, aber auch unsere Großmutter Dora Benjamin und unser Vater Stefan emotional, politisch und intellektuell waren.“ 

Womit wir beim eigentlichen Thema sind. Der RN-Politiker Louis Aliot hat nicht erst nach seiner Wahl die von ihm beabsichtigte Nutzung des Kulturzentrums angekündigt, sondern bereits im Wahlprogramm seiner Liste. Die hat er mit weiteren Kandidatinnen und Kandidaten als „bürgerliche Liste“ präsentiert. Der Wolf hat also den Schafspelz übergezogen, um seine „Entdiabolisierungsstrategie“ zur Schau tragen zu können. Es gäbe noch einiges mehr zur Vereinnahmungsstrategie Aliots zu sagen. Nehmen wir abschließend die von Herrn Strauß kritisierte „Schändung“ auf. Der von ihm zitierte aber nicht so benannte »Kronjurist des Dritten Reiches«, Carl Schmitt, hatte seinerzeit mit anderen nationalsozialistischen Juristen empfohlen, den Menschenbegriff aufzugeben. Man müsse unterscheiden: „es gibt Volksgenossen, Reichsdeutsche, Ausländer, Juden u.a.“. Was das Schicksal der Juden war, ist bekannt. Der kritisierte Begriff der „Schändung“ ist da eher eine sehr zurückhaltende Bezeichnung des Sachverhaltes.

Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Köln

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Kolumne in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau am 20.08.2020: Vereinnahmung von Walter Benjamin