Es hätte wahrscheinlich keinen Brexit gegeben, wenn mehr junge Briten an einem Sonntagmorgen vor zwei Jahren aufgestanden und zur Wahl gegangen wären, oder mit der Herabsetzung des Wahlalters auch die 16-18jährigen die Chance gehabt hätten, sich zu einer Zukunft in und mit Europa zu bekennen. So konnten sich Demagogen und Lügner, die sich zum Teil längst aus dem Staub gemacht haben, mit ihrer Austrittseuphorie durchsetzen, was den heute noch jungen Briten in Zukunft wohl teuer zu stehen kommen wird.
Daran sollten wir uns erinnern, wenn im Mai nächsten Jahres die Wahlen zum Europaparlament anstehen. Es könnte eine ähnliche Schicksalsentscheidung mit langfristigen Folgen werden, wenn die derzeitige Mobilisierung des rechten und rechtsextremen Lagers in Europa über die Wahlmüdigkeit der Masse braver Bürger aus der demokratischen Mitte triumphiert. Wenn es zutrifft, dass nur noch 58% der europäischen Jugendlichen die Demokratie für die beste Staatsform halten, dann müssen bei allen, die illiberale und diktatorische Alternativen verhindern wollen, die Warnsignale aufleuchten.
„Die blauen Parteien sind auf dem Vormarsch … wir sind eine weltweite Bewegung“, triumphierte kürzlich ein AfD-Redner in einem bayerischen Wahlkampf-Bierzelt und lobte die wachsende internationale Vernetzung. Amerika schaue nach Europa und die AfD wiederum verbinde mit Trump große Hoffnungen, weil man gesehen habe, wie „ein Underdog das System besiegen konnte.“ Im Schulterschluss mit dem „guten Freund Salvini“ von der italienischen Lega, mit den Freiheitlichen Rechten in Österreich, mit Kontakten zu Staatspräsident Zeman in Tschechien, dem man gerade ein Treffen mit Steve Bannon arrangiert hat, baut sich etwas auf, was demnächst in einer starken ultrarechten Fraktion das europäische Parlament aufmischen soll. Bannon reist für seine offenbar gut ausgestattete Stiftung „The Movement“ von Brüssel aus in alle europäischen Hauptstädte, um seine US-Wahlkampferfahrungen hier einzupflanzen. Orban in Budapest war gerade das letzte Reiseziel. In der nähe von Rom hat er jüngst die ultrakonservativen katholischen Führungskräfte beraten, die sich um den US-Kardinal R. L. Burke versammeln, um Papst Franziskus zur Hölle zu wünschen.
Das alles ist schon mehr als ein Spuk, weil sich die extreme Rechte längst mit einer klaren Strategie auf den Weg zu einer schleichenden Machtergreifung begeben hat. Politiker der AfD sitzen längst in Rundfunkräten und Medienanstalten sowie in den Ausschüssen des Bundestages und sie drohen bald in allen Landesparlamenten vertreten zu sein. Sie wollen eine demokratiefeindliche Politik durchsetzen, die „das Eigene“ vor „dem Fremden“ schützen soll. Im letzten Wahlprogramm wurde die „deutsche Leitkultur“ beschworen: „Die Ideologie des ‚Multikulturalismus‘ gefährdet alle diese kulturellen Errungenschaften (…) Multi-Kultur ist Nicht-Kultur.“ Isolation auf der einen Seite und Öffnung zu allen nationalistischen Bewegungen der Europäischen Rechten auf der anderen. Man werde „eine Konservative Internationale schmieden“ um Europa „vor der drohenden Selbstvernichtung“ zu retten, ließ der deutsche Bannon-Begleiter vernehmen.
Wo bleibt die adäquate Antwort der europäischen Demokraten, und ich meine nicht nur der Sozialdemokraten, auf diese Kampfansage zur EU-Wahl im nächsten Jahr? Es braucht dringend tätiges Handeln gegen lähmendes Schweigen.
Die Kolumne erschien am 4.10.2018 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.