Zwi­schen Schweigen und Pöbeln

Eva Menasse Foto: Manfred Mayer

Beitrag von Eva Menasse, in leicht gekürzter Fassung erschienen in
DER SPIEGEL, 14.10.2017

Der Kanzlerkandidat der SPD ist auch an journalistischer Häme gescheitert. Die Sachlichkeit war für die AfD reserviert. 

Es gibt einen Skandal des vergangenen Wahlkampfs, der bisher nicht benannt worden ist, sich aber sogar über den Wahltag hinaus fortzeugt: Die gedankenlose, affektgesteuerte und von allen Leitmedien im Gleichklang betriebene Demontage des Martin Schulz.

Ein Marsmensch oder ein von sämtlicher Vorbildung freier Bewohner einer fernen Pazifikinsel, der in den vergangenen Wochen die deutsche Presse konsumiert hätte, würde den Eindruck gewonnen haben, dass dieser eine Mitbewerber durch einen grässlichen Betriebsunfall in den Wahlkampf geraten ist, ein armer Narr, ein Clown, der Nackte, der bei Bayern München manchmal übers Spielfeld rennt. Vielleicht hätte sich der ferne Besucher die Sache so erklärt, dass es immer einen geben muss, an dem sich alle abreagieren. Vielleicht sitzt der Marsmensch, nach Hause zurückgekehrt, bereits an der ersten Mars-Studie zum Phänomen des Sündenbocks.

Was die deutsche Presse – womöglich ohne es zu merken! –  in diesem Wahlkampf vollbracht hat, schockiert mich mehr als der Aufstieg der AfD. Und ich gehe so weit zu unterstellen, dass beides subtil zusammenhängt. Die wenigsten Martin-Schulz-Artikel kamen ohne Bild eines im Dreck liegenden roten Luftballons, ohne beschmiertes Schulz-Plakat, ohne Formulierungen wie „verpatzt“, „Luft raus“, „bemitleidenswert“, „der Kandidat, der um seine Erlösung zu betteln schien“ aus. Und da schweigen wir noch von dem, was Gabor Steingart im „Handelsblatt“ trieb. Als der Schulz-Hype des Frühjahrs vorüber war, war der SPD-Kandidat zum menschlich-moralischen Abschuss freigegeben. Und alle haben mitgemacht – vermutlich, weil auch die Journalisten, wie viele Normalbürger, erst riesige Hoffnung auf einen Wechsel, auf etwas Neues, Frischeres gehabt haben und man dem, der die eigenen Hoffnungen enttäuscht, automatisch viel böser ist als der, von der man nichts mehr erwartet hat. Doch Qualitätsmedien dürfen keine Stimmungsverstärker, sie müssen Instanzen der Vernunft sein. Warum also waren Fluten von Krokodilstränen und all der überzogener Hohn ausschließlich für Schulz reserviert?

„In der Küche ist es heiß“, pflegte in solchem Zusammenhang Peer Steinbrück zu sagen, der – remember? – zu Beginn der globalen Finanzkrise ein umsichtiger Finanzminister an Angela Merkels Seite war und von dem heute, den Medien sei Dank, vor allem sein Stinkefinger in Erinnerung geblieben ist. Der Küchenspruch stimmt natürlich: Wer in die Spitzenpolitik geht, braucht eine Menge seelischer Hornhaut. Dennoch hat der Umgang mit Martin Schulz ein demokratisch bedenkliches Niveau erreicht: auf seriöse Bewerber einprügeln, die Rechten aber nur mit der Kneifzange anfassen.

Der den deutschen Wahlkampf beobachtende Marsmensch wäre jedenfalls  nicht auf die Idee gekommen, dass derjenige, auf den da überall hochmütig heruntergelacht wurde, ein international angesehener, krisenerprobter Spitzenpolitiker ist, jemand, der viele Jahre lang sach- und fachkundig, temperamentvoll und angriffslustig dem europäischen Parlament vorgestanden hat. Jemand, der die Europäische Union und alle ihre Mitgliedsstaaten so genau kennt wie die deutsche Politik, der dazu kunst- und literaturaffin ist wie lang kein Politiker. Jemand, der fünf Fremdsprachen spricht und auch die schlechteste davon noch besser als mancher Provinzpolitiker Hochdeutsch. Ja, der SPD-Wahlkampf mag verzagt und widersprüchlich gewesen sein – doch die Häme war, angesichts des unverändert stumpfen Auftretens der Kanzlerin, auffallend ungleich verteilt. Und das kontrastierte auf unheimliche Weise mit der Berichterstattung über die AfD. Diese war weitgehend frei von Spott, als wollte man sich hier auf keinen Fall dem Vorwurf der Ungleichbehandlung aussetzen. Eine aufsehenerregend heftige Antwort auf die Unsäglichkeiten Alexander Gaulands, ein von SPIEGEL-Kulturchefin Elke Schmitter verfasster Offener Brief, kursierte nur in den sozialen Medien und erschien nie im Print. Inzwischen wird Gaulands mediale Menschwerdung vorangetrieben, indem man zartfühlend über seine früheren Depressionen berichtet. Das ist offenbar weniger problematisch als ein Jahrzehnte überwundenes Alkoholproblem. Und wenn Gauland nun beschwichtigend sagt, er werde als „76-jähriger doch nicht die Kanzlerin mit der Flinte durch das Land jagen“, dann sind alle gleich beruhigt, ohne zu bedenken, dass junge Rechtsradikale diesen Satz auch ganz anders verstehen könnten. Oder dass ein Satz, in dem die Worte „Kanzlerin“, „Flinte“ und „durchs Land jagen“ nebeneinander stehen, für sich genommen ein Tabubruch ist – daran ändert die Verneinung gar nichts. Und so ähnelt die AfD-Berichterstattung im Tenor weiterhin den Wettervorhersagen in Florida: Man sieht eine Naturkatastrophe kommen und berichtet mit angemessenem Grusel darüber. In jenem Grusel steckt aber immer auch vorauseilende Unterwerfung – huhu, seht her, was da Gewaltiges auf uns zukommt.

Nun erschien im Spiegel „Die Schulz-Story“, eine Langzeitbeobachtung, wie sie in Journalismus und Literatur (etwa Yasmina Reza über Nicolas Sarkozy) begehrt und üblich ist. Es ist ein ehrlicher Text, der das Auf und Ab eines ziemlich wirren Wahlkampfes schildert, Martin Schulz aber nicht verzerrt, ihn vielmehr selbstkritisch, nachdenklich und immer wieder bewunderswert kämpferisch zeigt.

Gerade dieses Porträt aber, so behaupten nun etliche Pharisäer, so trommelt die wieder besonders widerliche Bild-Zeitung, müsse erst recht zu Schulz‘ Untergang beitragen: Ein Politiker, der sich verletzlich zeigt? Der gar an sich zweifelt? Hinweg mit ihm! Die krachende Banalität, dass nämlich auch ein in den Umfragen zurückliegender Politiker weiter wahlkämpfen muss, versucht der Internet-Newsletter „meedia“ geifernd zum Dolchstoß umzudichten: „wie glaubwürdig [kann] ein Politiker noch sein, der sich gegenüber dem Reporter als totaler Loser outete, während er potenziellen Wählern gegenüber auf Marktplätzen und im TV noch den Daueroptimisten Martin Schulz andrehte.“ Dass es in der „Schulz-Story“ keinen Satz gibt, der die Zusammenfassung „sich als totaler Loser outet“ rechtfertigt, ist dabei kein Detail am Rande, sondern genau die infame Systematik, die ich meine.

Ja, dieses Deutschland hat sich seine genial (oder hilflos?) schweigende Kanzlerin wohl verdient, und die demnächst auch im Bundestag pöbelnden Rabauken vom rechtsradikalen Rand. Zwischen den Extremen Schweigen und Pöbeln ist offenbar für niemanden mehr Platz. Eine Horrorvorstellung: Die Wirklichkeit verwandelt sich der digitalen Blase an – statt umgekehrt. Daran sind auch die guten „alten Medien“ schuld. Auf volksfesthafte Weise machen sie sich gerade als intellektuelles Gegengift überflüssig – indem viele erfahrene Journalisten nicht mehr zu bemerken scheinen, wie sehr ihnen die in der Luft liegenden Emotionen in ihre Texte rinnen. Dabei würden wir sie gerade jetzt so dringend brauchen, in einer Zeit größter medialer und politischer Verunsicherung durch den in den Glasfaserkabeln tobenden Lügen-Tsunami, dem wir sonst ohne jede Gegenwehr ausgesetzt sind.

Eva Menasse hat die ungekürzte Fassung des Beitrags der Aktion für mehr Demokratie zur Veröffentlichung überlassen.