Verteidigt die Republik

Heinrich Böll, 1983 in der Essener Grugahalle

Am 5. Februar 1983 rief die Aktion für mehr Demokratie zur »Verteidigung der Republik« in die Grugahalle zu einem Sechs-Stunden-Marathon mit Musik, Kabarett und Diskussion. Heinrich Böll löste mit seiner programmatischen Rede stehende Ovationen aus. Der begeistert aufgenommene Dieter Hildebrandt trat für uns wie immer ohne Gage auf. Auf der Bühne diskutierten Lew Kopelew, Pavel Kohout, Freimut Duve, Luise Rinser, Jo Leinen und Helga Schuchardt vor mehr als 7000 Leuten, die aus allen Teilen der Republik nach Essen gekommen waren. Allein aus Berlin hatten sich zahlreiche Besucher mit mehreren Bussen auf eine 24-Stunden-Reise gemacht. Gäste kamen aus Konstanz, Kiel, Saarbrücken, München und Hamburg mit Sonderbussen, der Bahn und im Auto.
Die allgemeine Begeisterung in der Grugahalle wurde nur einmal kurz getrübt, als Petra Kelly von Ina Deters Frauenrockband auf die Bühne geschmuggelt in einem ihrer dramatischen Auftritte mit einem flammenden Wahlaufruf für die Grünen den Saal irritierte und wie der verschwand. Die zahlreichen Fernsehteams waren wie sich später herausstellte nur gekommen, um Heinrich Böll bei dieser Gelegenheit einige Interviews abzutrotzen. Seinen freundlichen Bitten, doch auch über die Veranstaltung zu berichten, kam erwartungsgemäß so gut wie niemand nach.

Plakat/Flugblatt, 1983

Mutig geworden und endgültig überzeugt, uns bei entsprechender Vorbereitung an die großen Hallen wagen zu können, wollten wir im Mai 1984 nach der Republik nun die Kultur verteidigen. Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass Helmut Kohl, den man anfangs schon wegen seiner immer neuen schiefen Sprachbilder viel belächelt hat, doch keine kurze Episode sein würde. Seine bei Amtsantritt vollmundig angedrohte geistig-moralische Erneuerung hatte auch unter eher unpolitischen Kunstfreunden für einige Unruhe gesorgt. Kohl, der nach eigenen Angaben als Schüler »in Hölderlin gut« war, kann im Rückblick auf seine sechzehn Amtsjahre bei allem Wohlwollen nicht gerade als Glücksfall für das Kultur- und Geistesleben der Republik betrachtet werden. So versuchten wir, im Rahmen eines Kongresses darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahren dem Kulturleben durch Kohls Missionen und seine eifrigen Vollstrecker drohen, wie sein Einfluss nach und nach lähmen kann.

Plakat/Flugblatt, 1984

Es galt auch, der Resignation in den eigenen Reihen entgegenzuwirken. Gekommen waren in die Duisburger Mercatorhalle neben vielen anderen Lew Kopelew, Will Quadflieg, Fritz Sänger, Bernt Engelmann, Volker Canaris, Niels-Peter Rudolph, Volker Schlöndorff, Eva Rühmkorf und Jutta Brückner. Selbst Claes Oldenburg aus New York war zu unserer Unterstützung herbeigeeilt. Ein großes Kulturspektakel mit Dieter Hildebrandt, Lore Lorentz, Hanns Dieter Hüsch, Hans Scheibner und Heinz Rudolf Kunze sollte den Verzagten Mut machen.

Als wir im Dezember 1986 unter dem Slogan »Bringt die Birne aus der Fassung – Solidarität statt Ellenbogen« abermals in die Grugahalle einluden, taten wir das in der festen Überzeugung, dass der nächste Bundeskanzler Johannes Rau heißen würde. Nicht einmal die größten Pessimisten konnten zu diesem Zeitpunkt vermuten, dass uns die Kohlregierung noch weitere zwölf lange Jahre begleiten würde. Kein Gerhard Polt, Dieter Hildebrandt, Thomas Freitag, Hans Scheibner, Peter Rühmkorf, Peter Härtling, Günter Wallraff, Albert Mangelsdorff, Ernesto Cardenal, keine Lore Lorentz und Carola Stern wollten sich eine derart lange Durststrecke auch nur vorstellen. Auch Oskar Lafontaine, prominentester Redner unseres Wahlfestes, mochte der düsteren Prophezeiung Herbert Wehners keinen Glauben schenken, der für die Sozialdemokraten in der Opposition einen mehr als zehn Jahre langen Marsch durchs Tal der Tränen vorausgesagt hatte.
Zur Unterstützung von Oskar Lafontaine als Herausforderer starteten wir 1990 einen weiteren Anlauf, um die Festung Kohl zu stürmen. Die Vereinigung der beiden Deutschland auch ein später Erfolg der von Willy Brandt eingeleiteten Ostpolitik »Wandel durch Annäherung« hatte zunächst Hoffnungen auf einen Politikwechsel genährt. »Soviel Anfang war nie« war das Motto eines internationalen Kongresses, zu dem wir nach Köln einluden, um nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation über die neuen politischen Möglichkeiten zu diskutieren. Kohl, der vor der Vereinigung allgemein schon als der sichere Wahlverlierer gehandelt wurde, nutzte die Gunst der Stunde. Er schaffte es, die ostdeutschen Wähler über die sogenannte »Allianz für Deutschland« ins Unionslager zu ziehen. Nach außen wurde so getan, als ließen sich die Kosten der Einheit aus der Portokasse bezahlen, nach innen wurde die Finanzierung auf die Sozialkassen abgewälzt mit weitreichenden Folgen für das gesamte Sozialversicherungssystem.