MEMORIAL in der Geschichte Russlands

von Wolfgang Eichwede

Der Text erschien am 20.12.2021 in der Beilage „Peterburgskij Dialog“ der Moskauer Zeitung „Kommersant“.

Am 29. und 30. Oktober 1988 versammelten sich im Moskauer „Domkino“ (Haus des Kinos) Hunderte von Menschen, um MEMORIAL zu gründen – ich hatte das Glück, dabei zu sein. Wir standen auf, um uns vor denen im Saal zu verbeugen, die den Terror Stalins überlebt hatten und anwesend waren. Keinen Monat später fand in einer Elektrofabrik eine „Woche des Gewissens“ statt. An der Wand hing nicht nur eine Karte der Sowjetunion, auf der alle Lagerorte eingezeichnet waren. Neben ihr hatten die Organisatoren lange weiße Flächen angebracht, auf denen Tausende von Namen eingetragen wurden, deren Schicksal im GULAG aufgeklärt werden sollte – ehemalige Mitgefangene trugen Vermerke ein. Eine Spurensuche, die von Tränen begleitet war. Auf dem Kalitnikov-Friedhof gedachten wir der im Jahre 1937 Erschossenen. Als ich Weihnachten für wenige Tage zuhause in Bremen war, berichtete ich, dass sich in Moskau aus den Tiefen seiner Geschichte ein neues Land bilde. Wir in Deutschland hätten das nach dem Kriege nicht vermocht. In Russland komme von innen, was bei uns nach dem Kriege nur von außen ermöglicht worden sei. 

Memorial als Mahner in den Jahren des Umbruchs

Die Weltmacht Sowjetunion erlebte aufregende Jahre. Schließlich brach sie in ebenso dramatischen wie letztendlich zivilen Formen auseinander. War für den Kollaps des Imperiums seine innere Schwäche verantwortlich, hatte die Friedlichkeit des Wandels ihren Kern in der moralischen Stärke derer, die den Widerstand gegen die alte, diktatorische Ordnung verkörperten. Es war ein Sieg der gewaltlosen Disziplinierung der Macht. MEMORIAL machte ein Herzstück dieses Sieges aus. (In Klammern freilich zu notieren ist, dass auch die Führung des Landes unter Michail Gorbatschow auf den Einsatz massiver militärischer Gewalt verzichtete, als die Geschichte über ihn hinwegging. Der Präsident erkannte seine Ohnmacht an. So bargen der nahezu friedliche Untergang der UdSSR und der Auftakt des neuen Russlands alle Chancen in sich, in der internationalen Politik, insbesondere in Europa neue Maßstäbe zu setzen.) Wir im Westen konnten nur lernen. Die „Helden“ waren die Völker oder Gesellschaften des europäischen Ostens.

Doch erwiesen sich die neunziger Jahre als eine turbulente Epoche mit krassen Widersprüchen. Zu den hohen sozialen Folgekosten der kaputten Ordnung kamen die nicht weniger hohen Kosten einer privatwirtschaftlichen Ordnung, die so gut wie keine Regeln kannte. In dieser wilden Zeit, in der jeder Halt verloren zu gehen schien und sich viele Hoffnungen des Umbruchs auflösten, wirkte MEMORIAL wie ein ruhender Pol. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten nicht nur als Historiker an der erschütternden Geschichte des „Großen Terrors“ und versuchten, Millionen von Menschen ihre zerstörte oder verschwiegene Biographie zurückzugeben. MEMORIAL warb und wirbt ebenso für die Würde des Menschen in der Gegenwart, für die Herstellung und Einhaltung des Rechts. Ebenso ist MEMORIAL eine Kraft des Friedens. Wie es die beiden russischen Kriege in Tschetschenien (1994/5 und 1999/2000) heftig kritisierte, protestierte es mit scharfen Worten gegen den Krieg der NATO gegen Serbien (1999), um sich 2014 gegen die das Völkerrecht brechende Annexion der Krim und die militärische Einmischung Russlands in der Ukraine zu wenden. Die Menschenrechtsorganisation kennt in der Verurteilung von Kriegen keine Einseitigkeiten. Wer MEMORIAL mundtot macht, nimmt dem Frieden eine Stimme. 

Vor wenigen Wochen hat die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau ein Verfahren eingeleitet, MEMORIAL zu „liquidieren“. Doch ist der innere Feldzug der Staatsmacht gegen Einrichtungen, die sich „unabhängig“ von ihr definieren, nicht auf dieses eine Beispiel beschränkt. Viele zivilgesellschaftlichen Institutionen stehen gegenwärtig in Russland als „ausländische Agenten“ auf der Anklagebank. Nach dem Stand von Ende November sind es insgesamt 173, darunter Vereinigungen, die sich für die Rechte von Frauen, von Minderheiten, von Medien, von Regionen oder eben für die Rechte Andersdenkender einsetzen. Mehr als hundert haben sich aus Angst vor Verfolgung von selbst aufgelöst. Am Horizont steht ein Russland ohne Freiheit.

Memorial und Deutschland

Für mein Land – Deutschland – hat MEMORIAL eine besondere Bedeutung. Indem sie das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der ehemaligen UdSSR, die während des Krieges als Sklaven in Hitlers Deutschland arbeiten mussten, in hunderttausenden von Zeugnissen dokumentierte, trug sie wie niemand sonst dazu, dass das heutige Deutschland den Opfern von damals Entschädigungen zahlte. MEMORIAL hat praktische Politik im Interesse russischer, belarussischer und ukrainischer Bürger geleistet. Es ist das historische Verdienst von Lena Zhemkova, die heute als Geschäftsführerin von MEMORIAL in Moskau als „ausländische Agentin“ vor Gericht steht, mit der Initiierung dieses Projektes für die Menschen in ihrem Lande mehr getan zu haben als alle ihre Regierungen. Irina Scherbakowa gehört als Historikerin von MEMORIAL zu dem wissenschaftlichen Beirat des NS-Konzentrationslagers von Buchenwald.

MEMORIAL als Botschafter Russlands

Doch wirkt die Organisation weit über Deutschland und Russland hinaus. Sie ist eine internationale Institution – sie wirkt in Polen, in Italien, in Frankreich, in den USA, in einer großen Zahl von Ländern. Alle brauchen ihren Rat. Von daher ist es geradezu absurd, sie als Sachwalter fremder Staaten oder als „ausländischen Agenten“ in Russland zu deklarieren. MEMORIAL ist ein Botschafter Russlands in der Welt. Seine Sprache und sein Votum sind nicht nur für das eigene Land – sie sind für uns alle in Europa und darüber hinaus unverzichtbar. Wer diese Stimme zum Schweigen bringen will, verstößt gegen all das, wofür die russische Literatur von Lew Tolstoj bis Anna Achmatowa steht. Er verstößt fundamental gegen russische Interessen.

Lassen Sie mich ein paar persönliche Worte einbauen. Wahrscheinlich kenne ich nahezu alle Akteure von MEMORIAL. In den zurückliegenden Jahrzehnten betrachteten sie die Entwicklung ihres Landes mit wachsender Sorge. Sie verwarfen den „wilden“ Kapitalismus der neunziger Jahre, sie stemmten sich gegen den autoritären Weg Vladimir Putins. Aber: sie griffen niemals nach der Macht. Ihr Ziel war und ist es, die Macht zu disziplinieren und auf Prinzipien des Rechts zu verpflichten. Mit Arsenij Roginskij (1946-2017), Gründer und Direktor von MEMORIAL, verband mich eine tiefe Freundschaft. Er war ein politischer Kopf, um mir dennoch immer wieder zu sagen, unsere Aufgabe ist es nicht, in die politischen Machtspiele einzugreifen, sondern sie menschenrechtlichen Regeln zu unterwerfen. Um dieses Verständnis von Politik jenseits von Machtambitionen zu verdeutlichen: Sergej Kowaljow (1930-2021), einer der großen Dissidenten der alten Sowjetunion, nahezu ein Jahrzehnt aus purer Willkür im GULAG, schließlich nach 1991 ein engagierter Deputierter in den Parlamenten des neuen Russlands, warb in stundenlangen Gesprächen mit mir für eine Kultur des Rechts. Die Lehre seines dramatischen Lebens sei, eine Gesellschaft könne und dürfe nicht ohne das Recht existieren, das auf der Würde des Menschen basiere.  Ich saß dem hochbetagten Kowaljow gegenüber und wusste: hier spricht ein Mann, der den kommenden Generationen die eigenen Leiden ersparen möchte. 

Fürchtet Russlands Präsident den Ruf von MEMORIAL nach Recht, nach der Ächtung von Gewalt und der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte?  Offensichtlich sollen die Mobilisierung nationaler Gefühle und die kalkulierte Konfrontation mit der Außenwelt helfen, das Land im Innern zusammenzuschließen und die herrschenden Machtstrukturen zu zementieren. MEMORIAL geht mit seinem Plädoyer für Offenheit und eine universale Vielfalt im Namen der Menschenrechte einen anderen Weg. Ist es nicht bitter, dass sich heute eine Organisation, die die stolze Tradition der Selbstbefragung fortschreibt, die die russische Literatur im 19. Und 20. Jahrhundert in unnachahmlicher Weise auszeichnet, nun laut Regierungsbeschluss selbst als „ausländischen Agenten“ bezeichnen muss und vom Verbot bedroht ist? 

Nein, wer Russland schätzt und liebt – wie ich seit mehr als sechzig Jahren -, schaut mit Hochachtung auf seine Kultur des freien Wortes und des Ungehorsams, nicht auf den Kontrollanspruch der Behörden. 

Und dieses Russland des unabhängigen Denkens verkörpert die wahre Größe des Landes.

Die russische Fassung des Artikels finden Sie hier als pdf-Dokument.

Prof. Dr. Wolfgang Eichwede, Historiker, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), war Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Das Bemühen um Freundschaft mit Russland müsse der Machtpolitik Putins „auch seine Grenzen zeigen – Grenzen, die sich aus dem Völkerrecht und den Rechten der kleineren, eben nicht so mächtigen Staaten ergeben“, schrieb Eichwede im Jahre 2018.

Kurz vor dem Irakkrieg 2003

Künstler, Intellektuelle und das „Nein“ des Kanzlers
Eine historische Reminiszenz von Klaus Staeck, erschienen in Heft 4/2011 der „Frankfurter Hefte“

Unbestritten zählt das „Nein“ zum Irak-Krieg zu den wichtigsten Leistungen der Regierungsjahre von Gerhard Schröder. In seinem Buch „I am not convinced“ reklamierte der ehemalige Außenminister Joschka Fischer für sich, damals einen maßgeblichen Einfluss auf diese Entscheidung gehabt zu haben. Im Präsidium der SPD müssen wohl vor allem Heidemarie Wieczorek-Zeul und Wolfgang Thierse Schröder zu einem klaren „Nein“ gedrängt haben. Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass es sich um einen der seltenen historischen Momente handelte, in dem Künstler und Intellektuelle eine schwerwiegende politische Entscheidung mit beeinflussten. Ein persönliches Protokoll von Klaus Staeck aus aufgeheizter Zeit.
Hier der Link zum pdf-Dokument aus dem Archiv der Frankfurter Hefte.

Ausstellungen und Ideentreffs

Die Ausstellungen

Unter den vielfältigen Aktivitäten der Aktion für mehr Demokratie nehmen die Ausstellungen einen besonderen Platz ein. Unsere Angebote wurden vor allem in den großen Wahlauseinandersetzungen von den Untergliederungen der Partei, den Jusos, einzelnen Gruppen und Initiativen sowie Privatpersonen genutzt. Auch wenn sie einen gewissen organisatorischen Aufwand erfordern, Ausstellungen werden in der Öffentlichkeit so gut wie immer wahrgenommen und können meist auf ein Echo in den Medien hoffen.
Im Bundestagswahlkampf 1994 – Rudolf Scharping war der Kanzlerkandidat der SPD – galt es, den großen Erfolg der »Für Oskar«-Ausstellungsserie möglichst zu übertreffen. Wieder hatten 38 Künstlerinnen und Künstler, von Max Bill bis Tomi Ungerer, unter dem Motto »FLAGGE ZEIGEN – Für Demokratie – Gegen Gewalt und Fremdenhass« eine Grafikauflage zur Verfügung gestellt. Mehr als 160 Ausstellungen kamen zustande, lösten lebhafte Diskussionen aus, versuchten, in der Routine der Wahlkämpfe einen besonderen Akzent zu setzen – jenseits der Werbestrategien hochbezahlter Agenturen. Wir überzeugten durch das persönliche Engagement mit eher sperrigen Beiträgen, die nicht leicht einzuordnen sind und auch noch nach den Wahlen für Gesprächsstoff sorgen.
Sogar der Bild-Zeitung waren unsere Aktivitäten nicht verborgen geblieben. Ich gestehe gern ein, dass mich der Anruf einer offenbar für Kultur zuständigen Mitarbeiterin des im allgemeinen recht kulturlosen Blattes äußerst überraschte. Bild fände unsere Aktion »FLAGGE ZEIGEN« hervorragend und wolle sie gern mit einem umfangreichen Bericht unterstützen. Meine freundliche, aber bestimmte Ablehnung dieses Angebotes schien die Anruferin völlig ratlos zu machen. Alle wollten doch in die Bild-Zeitung, würden die ungewöhnlichsten Anstrengungen unternehmen, um über das Blatt die wirklichen Massen zu erreichen. Mein Einwand, dass es doch pure Heuchelei sei, auf Seite eins gegen Asylbewerber zu hetzen und im hinteren Teil eine Initiative zu begrüßen, die für Fremdenfreundlichkeit wirbt, ließ sie nicht gelten. Dass jemand unter diesen Voraussetzungen lieber auf eine Erwähnung in Bild verzichtet, schien ihr völlig unverständlich. So beraubten wir uns der einmaligen Gelegenheit, jene Millionen Bild Leser anzusprechen, an die angeblich oder tatsächlich »alle ranwollen«.

Die Ideentreffs

Plakat, A.R. Penck, 1993

Die Klage über die Sprachlosigkeit zwischen Künstlern, Intellektuellen und Politikern gehört zur Grundausstattung der alltäglichen Jemeriade. Dessen ungeachtet versuchen wir immer wieder, mit zahlreichen Gesprächsangeboten Leute der verschiedensten Couleur zusammenzubringen. Dabei geht es nicht um einen festen organisatorischen Rahmen, aber um ein Minimum an Kontinuität. Nicht die medienwirksame Show ist gefragt, sondern Vertrauen in einem Klima von wechselseitigem Respekt und Neugierde aufeinander.
Anfang der achtziger Jahre trafen wir uns mehrmals in einer Bildungsstätte der Friedrich Ebert-Stiftung in Bonn-Venusberg zu den sogenannten »Venusberggesprächen«. Persönliche Einlader waren neben Klaus Staeck Egon Bahr, Jürgen Manthey, Claus Peymann und Axel Rütters. Zu dieser Zeit war die sozialliberale Regierungskoalition bereits ins Trudeln geraten, die Befürworter einer Fortsetzung der angeschlagenen Koalition stritten mit jenen Verdrossenen, die sich eine politische Rundumerneuerung vom vermeintlichen Jungbrunnen der Opposition erhofften, nicht ahnend, dass diese Regeneration schließlich sechzehn lange Jahre dauern würde. Von einer verlorenen Wahl zur nächsten wich seit 1983 das Prinzip Hoffnung einer weitverbreiteten allgemeinen Resignation. Ein Grund für nicht wenige, sich aus der politischen Debatte und damit aus der politischen Verantwortung zurückzuziehen.
Während eines Treffens mit Rudolf Scharping auf Einladung Horst Eberhard Richters anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1993 versuchten wir wieder an die Bonner Gespräche anzuknüpfen. Zusammen mit Oskar Negt und Hans Misselwitz lud ich ab Februar 1994 zu inzwischen zwölf Diskussionsforen nach Köln, Bonn, Potsdam und Berlin ein. Unter der programmatischen Überschrift »Ideentreff – Mut zu Reformen« trafen sich unabhängig von Wahlterminen führende SPD-Politiker – Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping, Wolfgang Thierse, Franz Müntefering, Ottmar Schreiner, Johannes Rau, Hans Eichel, Regine Hildebrandt, Anke Brunn und Reinhard Klimmt – mit zahlreichen Künstlern und Intellektuellen, um Modelle für einen Macht- und Politikwechsel zu entwickeln.
Der 10. Ideentreff am 19. August 1998 im Willy-Brandt-Haus und im Berliner Ensemble war der spektakulärste unter dem Motto euroVISIONEN. Miteinlader war der ehemalige französische Kulturminister Jack Lang. Über 400 Teilnehmer aus dem In und Ausland folgten unserer Einladung, darunter Viviane Forrester, Michel Tournier und Michel Jarre aus Paris, Elie Wiesel aus New York, Ben Kingsley aus London, Krisztof Zanussi aus Rom, Antoni Angeloupoulos aus Athen, Adam Krzeminski aus Warschau, Jurij Chaschtschewatski aus Minsk und die Deutschen Senta Berger, Leonie Ossowski, Erich Loest, Torsten Becker, Hannelore Hoger, Hilmar Thate, Angelika Domröse, Uwe Friedrichsen, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Michael Verhoeven, Rut Brandt, Roger Willemsen, Friedrich Schorlemmer, Michael Naumann, Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Franz Müntefering, Herta Däubler-Gmelin und Wolfgang Thierse.
Vierzehn Fernsehanstalten und mehr als 200 Journalisten aus zahlreichen europäischen Ländern und den USA berichteten ausführlich. Selbst die hämischsten unter den Kulturberichterstattern kamen um die Feststellung nicht herum, dass es seit den Tagen Willy Brandts ein derartiges Ereignis mit Signalcharakter nicht mehr gegeben hat.
EuroVISIONEN, ein unüberhörbarer Appell für die Abwahl der verbrauchten Kohlregierung, war der kulturpolitische Höhepunkt im Bundestagswahlkampf 1998.
Zur Überraschung vieler war Kultur in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt. Am 27. September 1998 war es dann soweit: Der von kaum jemand erwartete klare Sieg von SPD und Grünen schuf eine neue Situation.
Die anfängliche Euphorie über die komfortable Mehrheit für ein rotgrünes Regierungsbündnis und damit für dringend notwendige Reformen hielt nicht lange vor. Sankt Florian bleibt der verlässlichste Schutzpatron der Bundesbürger.
Deshalb ist Einmischung weiter gefragt. Aktionen für die Wahl von Johannes Rau zum Bundespräsidenten und zur Unterstützung von Reinhard Klimmt im saarländischen und Heide Simonis im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf ließen keinen Verdacht aufkommen, wir wollten uns nach der gewonnenen Bundestagswahl aus der Politik zurückziehen.

Verteidigt die Republik

Heinrich Böll, 1983 in der Essener Grugahalle

Am 5. Februar 1983 rief die Aktion für mehr Demokratie zur »Verteidigung der Republik« in die Grugahalle zu einem Sechs-Stunden-Marathon mit Musik, Kabarett und Diskussion. Heinrich Böll löste mit seiner programmatischen Rede stehende Ovationen aus. Der begeistert aufgenommene Dieter Hildebrandt trat für uns wie immer ohne Gage auf. Auf der Bühne diskutierten Lew Kopelew, Pavel Kohout, Freimut Duve, Luise Rinser, Jo Leinen und Helga Schuchardt vor mehr als 7000 Leuten, die aus allen Teilen der Republik nach Essen gekommen waren. Allein aus Berlin hatten sich zahlreiche Besucher mit mehreren Bussen auf eine 24-Stunden-Reise gemacht. Gäste kamen aus Konstanz, Kiel, Saarbrücken, München und Hamburg mit Sonderbussen, der Bahn und im Auto.
Die allgemeine Begeisterung in der Grugahalle wurde nur einmal kurz getrübt, als Petra Kelly von Ina Deters Frauenrockband auf die Bühne geschmuggelt in einem ihrer dramatischen Auftritte mit einem flammenden Wahlaufruf für die Grünen den Saal irritierte und wie der verschwand. Die zahlreichen Fernsehteams waren wie sich später herausstellte nur gekommen, um Heinrich Böll bei dieser Gelegenheit einige Interviews abzutrotzen. Seinen freundlichen Bitten, doch auch über die Veranstaltung zu berichten, kam erwartungsgemäß so gut wie niemand nach.

Plakat/Flugblatt, 1983

Mutig geworden und endgültig überzeugt, uns bei entsprechender Vorbereitung an die großen Hallen wagen zu können, wollten wir im Mai 1984 nach der Republik nun die Kultur verteidigen. Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass Helmut Kohl, den man anfangs schon wegen seiner immer neuen schiefen Sprachbilder viel belächelt hat, doch keine kurze Episode sein würde. Seine bei Amtsantritt vollmundig angedrohte geistig-moralische Erneuerung hatte auch unter eher unpolitischen Kunstfreunden für einige Unruhe gesorgt. Kohl, der nach eigenen Angaben als Schüler »in Hölderlin gut« war, kann im Rückblick auf seine sechzehn Amtsjahre bei allem Wohlwollen nicht gerade als Glücksfall für das Kultur- und Geistesleben der Republik betrachtet werden. So versuchten wir, im Rahmen eines Kongresses darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahren dem Kulturleben durch Kohls Missionen und seine eifrigen Vollstrecker drohen, wie sein Einfluss nach und nach lähmen kann.

Plakat/Flugblatt, 1984

Es galt auch, der Resignation in den eigenen Reihen entgegenzuwirken. Gekommen waren in die Duisburger Mercatorhalle neben vielen anderen Lew Kopelew, Will Quadflieg, Fritz Sänger, Bernt Engelmann, Volker Canaris, Niels-Peter Rudolph, Volker Schlöndorff, Eva Rühmkorf und Jutta Brückner. Selbst Claes Oldenburg aus New York war zu unserer Unterstützung herbeigeeilt. Ein großes Kulturspektakel mit Dieter Hildebrandt, Lore Lorentz, Hanns Dieter Hüsch, Hans Scheibner und Heinz Rudolf Kunze sollte den Verzagten Mut machen.

Als wir im Dezember 1986 unter dem Slogan »Bringt die Birne aus der Fassung – Solidarität statt Ellenbogen« abermals in die Grugahalle einluden, taten wir das in der festen Überzeugung, dass der nächste Bundeskanzler Johannes Rau heißen würde. Nicht einmal die größten Pessimisten konnten zu diesem Zeitpunkt vermuten, dass uns die Kohlregierung noch weitere zwölf lange Jahre begleiten würde. Kein Gerhard Polt, Dieter Hildebrandt, Thomas Freitag, Hans Scheibner, Peter Rühmkorf, Peter Härtling, Günter Wallraff, Albert Mangelsdorff, Ernesto Cardenal, keine Lore Lorentz und Carola Stern wollten sich eine derart lange Durststrecke auch nur vorstellen. Auch Oskar Lafontaine, prominentester Redner unseres Wahlfestes, mochte der düsteren Prophezeiung Herbert Wehners keinen Glauben schenken, der für die Sozialdemokraten in der Opposition einen mehr als zehn Jahre langen Marsch durchs Tal der Tränen vorausgesagt hatte.
Zur Unterstützung von Oskar Lafontaine als Herausforderer starteten wir 1990 einen weiteren Anlauf, um die Festung Kohl zu stürmen. Die Vereinigung der beiden Deutschland auch ein später Erfolg der von Willy Brandt eingeleiteten Ostpolitik »Wandel durch Annäherung« hatte zunächst Hoffnungen auf einen Politikwechsel genährt. »Soviel Anfang war nie« war das Motto eines internationalen Kongresses, zu dem wir nach Köln einluden, um nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation über die neuen politischen Möglichkeiten zu diskutieren. Kohl, der vor der Vereinigung allgemein schon als der sichere Wahlverlierer gehandelt wurde, nutzte die Gunst der Stunde. Er schaffte es, die ostdeutschen Wähler über die sogenannte »Allianz für Deutschland« ins Unionslager zu ziehen. Nach außen wurde so getan, als ließen sich die Kosten der Einheit aus der Portokasse bezahlen, nach innen wurde die Finanzierung auf die Sozialkassen abgewälzt mit weitreichenden Folgen für das gesamte Sozialversicherungssystem.

Freiheit statt Strauß. Aktion für mehr Demokratie

Aufkleber, 1979

Mit Franz Josef Strauß drohte ein rhetorisch äußerst begabter »Vollblut«-Politiker Bundeskanzler zu werden, dessen politischer Weg von Skandalen und Affären gepflastert war. Schon deshalb hielt sich das Vertrauen des Wahlvolkes zu ihm in engen Grenzen. Kaum jemand hat in der deutschen Nachkriegsgeschichte so polarisiert wie er, und seine Kandidatur versetzte alle um die Demokratie Besorgten in große Unruhe.
Franz Josef Strauß war auch in den Schwesterparteien CDU/CSU nicht unumstritten. Erst nach langen internen Auseinandersetzungen hatten sich die Unionsparteien entschieden, ihn ins Rennen um die Kanzlerschaft zu schicken. Mit der polemischen Parole »Freiheit statt Sozialismus«, von einigen Unionschristen zu »Freiheit oder Sozialismus« heruntergemendelt sollte die bis dahin von einer sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt gehaltene Bonner Festung gestürmt werden.
Zur Gründung einer unabhängigen Bürgerinitiative für den beginnenden Bundestagswahlkampf trafen sich am 2. September 1979 im Volkshaus Oberhausen-Eisenheim zwanzig Gewerkschafter, Künstler und Journalisten. Die kleine Oberhausener Runde wählte Adi Ostertag, Leiter des IG-Metall-Bildungszentrums Sprockhövel, und mich zu ihren Sprechern. Nach einigem Hin und Her gaben wir uns in Anspielung an die CDU-Parole den Namen »Freiheit statt Strauß. Aktion für mehr Demokratie«. Was niemand vorausgesehen hatte: Die Initiative breitete sich lawinenhaft aus. In der heißen Wahlkampfphase gab es schließlich über 210 lokale Gruppen, die bei mehr als 200 Veranstaltungen über 150 000 Leute erreichten. Die produktivsten Initiativen bestanden aus drei Personen: einem Theoretiker, einem Praktiker, einem Helfer. Wurden es mehr, geriet das eigentliche Ziel der Arbeit schon einmal aus dem Blickfeld, kam bei einigen sogar der Gedanke auf, ob es nicht besser sei, gleich eine neue Partei zu gründen, mit der dann endlich alles besser würde.

Plakat/Postkarte, 1980

Niemand vermochte so viele Gegner unterschiedlichster Couleur zu mobilisieren wie Strauß. Darunter waren auch viele Trittbrettfahrer, die Strauß nur als Vorwand für ganz andere Ziele benutzten. So erwies sich die unter dem Namen »Stoppt Strauß« firmierende, bundesweit agierende Initiative als unser härtester Gegner unter den Widersachern des Unionskandidaten. Geschickt hatte die DKP –  an Wahlabenden als Splitterpartei stets nur unter »ferner liefen« registriert – das weitverbreitete Anti-Strauß-Syndrom für sich zu nutzen versucht. Nicht ohne Erfolg.
In Orten, in denen die »Stoppt Strauß«-Leute mit der Gründung einer Initiative schneller waren als wir, hatten wir kaum noch eine Chance. Selbst gestandene Sozialdemokraten blieben bei ihrem Irrtum. Wer wollte schon eingestehen, dass er der DKP auf den Leim gegangen war. Nicht, dass auf diesem Wege versucht worden wäre, die Wähler davon zu überzeugen, die kommunistische Partei zu wählen. Das Wahlergebnis von 0,2 Prozent auf die schwindelnde Höhe von 0,3 Prozent hinaufzuschrauben wäre die gewaltige Anstrengung ohnehin nicht wert gewesen. Man wollte mit Hilfe von Strauß vor allem an neue Leute herankommen. Viele der Geköderten fanden sich dann auch bald in Seminaren wieder, in denen die Rolle der SPD seit der Bewilligung der Kriegskredite im Ersten Weltkrieg untersucht wurde. Von Wahlkampf war dann keine Rede mehr Ein Problem unserer Initiative war und ist die große Fluktuation. Nicht wenige finden Gefallen an kontinuierlicher politischer Arbeit auf anderer Ebene und treten der SPD bei. Einige wurden Parlamentarier wie Elga Kampfhenkel, die lange Zeit die Berliner Initiative leitete und später die SPD Berlin-Kreuzberg viele Jahre im Abgeordnetenhaus vertrat. An der »Spitze« der meisten Gruppen stehen engagierte Frauen wie Elisabeth Kuppert in Lippstadt, Gerda Lehmensiek in Bremen, Sabine Reif in Mühlheim/Ruhr.

Plakat, 1979

Von Anfang an ging es uns auch um die Erprobung eines neuen Veranstaltungstyps, der der personellen Zusammensetzung der Initiative entspricht: eine Verbindung von Kultur und Politik von Musik, Lesung, Theater, Ausstellung und Diskussion jeweils gleichwertig nebeneinander. Dabei sollen weder die Politik als Vehikel für Kultur noch die kulturellen Angebote als Vorwand für politische Diskussionen dienen. Die Leute, die zu uns kommen, wollen nicht nur beschallt werden, sondern unsere Standpunkte zu Kultur und Politik erfahren. Sie wollen mit reden. Deshalb haben wir die Politik nie versteckt.
Mit all unseren vielfältigen Aktivitäten knüpften wir bewusst an die Erfahrungen der in den sechziger Jahren von Günter Grass initiierten Sozialdemokratischen Wählerinitiativ an, die in reduzierter Form parallel zu unserer Aktion noch über viele Jahre weiter existierte.
Die Tatsache, von der Partei, die wir unterstützen, unabhängig zu sein, nutzen wir stets auch für solidarische Kritik, wenn wir das im Sinne der gemeinsamen Sache für erforderlich halten. Gerade dadurch werden wir für Zweifler und für jene glaubwürdig, die sich bereits von der Politik abgewendet haben. Wir haben Zulauf, weil wir aus der Routine der üblichen Politikbeglückung ausbrechen.
Dabei wird der Mut zum Experiment nicht immer belohnt. Die Flucht in große Namen bleibt für jede Gruppe verlockend. Oft sind es auch die leidigen Erfahrungen mit den örtlichen Medien: Über Veranstaltungen ohne »Weltmeister« wird weder vorher noch im nachhinein berichtet. Selbst Großveranstaltungen mit Medienstars finden oft nur ein mattes Echo. Die einen zieren sich, weil unser Engagement ja Wahlkampf sei, die anderen verstecken sich hinter dem Proporzargument: Solange es keine CDU-Wählerinitiative am Ort gebe, könne auch über unsere Aktivitäten nicht berichtet werden.

Plakat/Flugblatt, 1980

Später, nach verlorener Wahl, hat sich Franz Josef Strauß einmal bitter beklagt, dass unsere Initiative wesentlich zu seiner Wahlniederlage beigetragen habe. Das mag zwar schmeichelhaft klingen, bedeutet jedoch eine maßlose Überschätzung unseres zwar effektiven, aber in seiner Gesamtwirkung recht bescheidenen Treibens.
Der spektakulärste, von uns organisierte Wahlkampfauftritt fand am 31. Ma 980 in der Freilichtbühne Bad Segeberg statt, jenem Ort, an dem sich sonst nur Winnetou und Old Shatterhand ewige brüderliche Treue schwören. Unsere avisierten Bühnenstars waren Helmut Schmidt, Udo Lindenberg mit seinem Panikorchester, die Rockband Desire, Egon Bahr, Günther Jansen, Vivi Bach und Dietmar Schönherr als Moderator. In den Karl-May-Kulissen trat auch die Liedermacherin Bettina Wegner auf, die zu diesem Zeitpunkt noch in der DDR lebte Schon Anfang Mai hatte sie uns bei einer mehrtägigen, äußerst erfolgreichen Wahltournee durch die Republik unterstützt. Lindenberg, der durch seine Teilnahme an unserer Eröffnungsveranstaltung am 13. Februar 1980 in der Hamburger »Fabrik« der Initiative zu bundesweiter Aufmerksamkeit verholfen hatte, war nach Bad Segeberg mit dem Versprechen gelockt worden, dass es zu einer öffentlichen Diskussion zwischen ihm und Bundeskanzler Helmut Schmidt kommen sollte unter dem Erfolgslabel »Kanzler trifft Kanzler Erst während des laufenden Spektakels wurde uns bewusst, dass alle auf einen verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden warteten, bis auf Helmut Schmidt, der von nichts wusste. Offenbar hatte niemand aus seiner Umgebung gewagt dem Bundeskanzler unsere überall plakatierten Dialogwünsche vorzutragen.
Allein durch Vermittlung von Loki Schmidt kam es dennoch zu einem historischen Sechs-Augen-Gespräch zwischen den beiden und mir als stummem Zeugen einer wundersamen Begegnung. Das Ereignis fand aber nicht auf, sondern nur neben der Hauptbühne statt, zwar für das Publikum sichtbar, aber ohne Mikrofone, ohne Scheinwerfer.
Udo, mit dieser Lösung zunächst hochzufrieden, änderte von einem Konkret Redakteur angeheizt vor seinem Bühnenauftritt seine Meinung. Von da an waren wir gegenüber den einigen tausend Besuchern auf den Rängen nur noch um Schadensbegrenzung bemüht. Erst als sich gegen Mitternacht das Abenteuerseinem turbulenten Ende näherte, stellten wir fest, dass in der allgemeinen Hektik vergessen worden war, die Kassenhäuschen zu besetzen. So endeten unsere alternativen Karl-May-Festspiele auch noch mit einem finanziellen Debakel. Teile der Presse feierten das nicht öffentlich zustande gekommene Gespräch zwischen Lindenberg und Schmidt genüßlich als Niederlage unserer Initiative.

Arbeitskreis Medien

Zusammen mit dem Fernsehjournalisten Ulrich Wickert gründete ich 1977 den »Arbeitskreis Medien«. In der Wahlnacht 1976 verabredeten wir uns zu dieser Runde, um dem ständigen Gerede über die einseitige und unzulängliche Berichterstattung durch die Medien eine positive Wendung zu geben, soweit es in unseren Kräften stand. Bei regelmäßigen Treffen zu medienkritischen Themen kam es unter anderem zu Begegnungen mit den Gästen Egon Bahr, Johannes Rau, Peter Glotz, Günter Gaus, Volker Hauff, Hans-Jürgen Wischnewski, Franz Steinkühler, Oskar Negt, Hans-Ulrich Klose, Björn Engholm und dem BKA-Präsidenten Horst Herold. Eine gezielte Attacke der CSU, der Arbeitskreis sei in Wahrheit nur eine medienpolitische Tarnorganisation der SPD mit mir als Drahtzieher im Hintergrund, hätte den Kreis fast gesprengt.

Plakat/Postkarte, 1980

Eines der erklärten Ziele des Arbeitskreises war die Stärkung des stets gefährdeten öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems. Schon sehr bald zeichnete sich ab, dass auf die Einführung der Kommerzsender, die von Unionspolitikern nach Kräften gefördert wurde, unter dem zu erwartenden Quotendruck ganz automatisch eine Niveauabsenkung folgen würde. Die Kommerzialisierung aller Programmbereiche konnte kaum zu der anfangs verheißenen paradiesischen Informationsvielfalt führen, sondern musste viel eher mit einer Verarmung der Angebote enden, soweit man überhaupt noch inhaltliche Ansprüche stellen wollte.
In einem Gespräch mit dem Spiegel hat Helmut Thoma, immerhin als RTL-Chef lange Zeit Leiter eines der größten TV-Sender, schon früh freimütig bekannt, die Aufgabe des Fernsehens sei nicht Journalismus, sondern Unterhaltung, »nicht Aufklärung, sondern Zerstreuung« (Der Spiegel, 23.8.1993). Das Anspruchsniveau des werberelevanten Publikums der 14 bis 49jährigen wird offenbar bei Null eingeschätzt auf der nach unten offenen Verblödungsskala.
Denn die bei Einführung des Privatfernsehens aufgezwungenen niveauvollen »Fensterprogramme« möchte man lieber heute als morgen wieder loswerden. Sendungen, die die Menschenwürde auf besonders perfide Weise missachten – wie »Big Brother« im Kommerzsender RTL II – waren von Beginn an voraussehbar, wurden jedenfalls von den Befürwortern des dualen Systems immer billigend in Kauf genommen.
Vor diesem Hintergrund ist der ständige Kampf der Unionsparteien gegen die öffentlich rechtlichen Sender einer der Dauerskandale der Republik. Mit dem Mainzer Medienkongress seiner Partei 1985 stand für Helmut Kohl die Marschrichtung fest: das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem als »letztes Stück Zwangsbewirtschaftung« abzuschaffen. Seitdem hat es immer neue Versuche gegeben mal aus Bayern, mal aus Sachsen diesem Ziel näherzukommen. Das geschieht meist auf dem Wege der Erpressung, wenn wieder einmal eine Gebührenerhöhung notwendig wurde. Und da die CDU/CSU-Vertreter dank eines famosen Proporzsystems in allen Gremien und Redaktionen sitzen, können sie die Rundfunkfreiheit gleichzeitig von innen und außen aushöhlen.
Neben zahlreichen internen Treffen gab es auch einige öffentliche Veranstaltungen des Arbeitskreises Medien. So während der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1978 und 1979 mit Axel Eggebrecht, Freimut Duve und Martin Walser, um den zum wiederholten Male in seiner Existenz gefährdeten Norddeutschen Rundfunk zu unterstützen. Anläßlich dieser Diskussion wurden die folgenden »Fünf Thesen zur Rundfunkfreiheit« formuliert, die weiter ihre Gültigkeit haben. Die Lage hat sich eher noch verschärft.

Um unsere medienpolitischen Vorstellungen ganz praktisch ins Volk zu tragen, verabredeten wir uns für einige Zeit zu einem »Wanderzirkus«. Mit einem bunten Informationsprogramm starteten wir in einer Turnhalle im bayrischen Meitingen-Herbertshofen. Gerhard Polt und Luise Rinser waren neben vielen anderen beteiligt, die alle wie immer auf eigene Kosten in unseren Veranstaltungen auftraten.

»Fünf Thesen zur Rundfunkfreiheit« (1979)

  1. Rundfunk und Fernsehen sind in der Bundesrepublik Deutschland Organe einer freien Gesellschaft zur Förderung der individuellen und kollektiven Information und Kommunikation. Kein anderes Medium hat bisher einen vergleichbaren Auftrag, das gesamte Spektrum gesellschaftlicher Meinungs- und Willensbildung ohne politisch oder wirtschaftlich bedingte Einschränkungen abzudecken. Eine solche gesellschaftliche Aufgabe kann nur in gesellschaftlich garantierter und kontrollierter Unabhängigkeit von politischer und wirtschaftlicher Macht erfüllt werden.
  2. Die derzeitige Kampagne zur Aushöhlung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems tendiert gleichermaßen zu »Verstaatlichung« und »Privatisierung« der elektronischen Medien. In beiden Fällen wird der Rundfunk als Dienstleistung für den Bürger ebenso abgeschafft wie die Integrationsfunktion des Mediums in einer vielfach heterogenen Gesellschaft.
  3. Als unabhängiges Organ einer freien Gesellschaft haben Rundfunk und Fernsehen in erster Linie auch die Tätigkeit staatlicher Organe darzustellen und zu kommentieren. Rundfunkkontrolle durch die zu kontrollierende Regierung im Wege direkter oder indirekter Einflussnahme bzw. unter Missbrauch der Rechtsaufsicht ist mit dieser Aufgabe wie auch dem Prinzip journalistischer Unabhängigkeit unvereinbar.
  4. Rundfunk und Fernsehen haben als gesellschaftliches Medium die Interessen von Mehrheiten und Minderheiten ausgewogen zu berücksichtigen. Durch Privatisierung und Kommerzialisierung entsteht ein Konkurrenz und Wettbewerbsdruck, der einseitig auf Befriedigung von Mehrheitsinteressen orientiert und so unvereinbar ist mit der Integrationsfunktion des Mediums. Information in diesem Medium darf nicht zur Ware werden, die nach kommerziellen Wünschen und Finanzkraft des Nachfragers gehandelt wird.
  5. Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit sind in der Bundesrepublik Deutschland bedroht durch staatliche Eingriffe, parteipolitische Pressionen und eine gezielte Diffamierungskampagne gegen den Rundfunk in der Presse der interessierten Medienkonzerne. Die drohende Zerschlagung des NDR kann zum Auseinanderbrechen des bewährten Systems der Länderrundfunkanstalten führen. Die zukünftigen elektronischen Medien bedürfen daher des verstärkten Engagements demokratischer Bürger, wenn sie ihre Unabhängigkeit gleicher maßen gegen staatliche Organe und wirtschaftliche Profitinteressen wahren können sollen.