am 6. März 2022 auf dem Berliner August-Bebel-Platz
Wir haben zu dieser Kundgebung aufgerufen, weil wir keinen anderen Weg wußten, unserer Empörung, unserer Wut, unserer Fassungslosigkeit, unserer Solidarität mit der kämpfenden Ukraine Ausdruck zu verleihen.
Es ist eine Geste der Ohnmacht, der Hilflosigkeit. Wir sind bestürzt, weil wir Zuschauer sind, die wir nicht sein wollen, die wir aber lange genug waren. „Wir haben es uns nicht vorstellen können“ – war die rhetorische Formel der letzten Tage. Ja, und wir können uns nicht vorstellen, was noch kommen wird. Die Bilder von der neuen Ukraine, die wir seit der Revolution auf dem Maidan im Kopf hatten, werden nun mit Blut getränkt und mit Trümmern übersät. Die Ukraine war nach dem Ende der Sowjetunion ein anderes Land geworden – bei allen Schwierigkeiten. Ein Land, das sich an die Arbeit gemacht hatte, das nichts wollte, als in Ruhe gelassen zu werden.
Der neue Glanz Kiews, das moderne Charkiw, Odessa als Sehnsuchtsort, Lemberg im Aufbruch von Hightech und Tourismus. Eine Nation, so lange am Rand der europäischen Wahrnehmung hatte endlich ihren Platz im Horizont der Europäer gefunden, war endlich heraus aus dem Schatten der Sowjetunion und Russlands.
Nun soll das alles ungeschehen gemacht werden. Was Putin mit der Ukraine vorhat, hat er bereits vorgeführt. Er hat im Tschetschenien-Krieg Grozny dem Erdboden gleichgemacht, er hat das viertausendjährige Aleppo in Schutt und Asche gelegt. Aber er bleibt nicht stehen beim Urbizit.
Bis vor kurzem noch unvorstellbar sind Nuklearanlagen Kriegsziel geworden. Saporischshja, das größte Atomkraftwerk Europas liegt dort, wo in den 1920ern Dneproges, damals der größte Staudamm Europas, errichtet worden war. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Damm zweimal gesprengt, das Industrieland zurückgebombt in die Steinzeit. Charkiw, zweimal von den Deutschen erobert und zerstört, wird nun von russischen Raketen zerstört. Das Land, schon einmal verheert durch den millionenfachen Hungermord der 1930er Jahre ist in diesen Tagen wieder zum Land geworden, in dem in diesem Jahr keine Aussaat mehr möglich ist, es also auch keine Ernte geben wird.
Wir konnten es uns nicht vorstellen, dass die Kathedralen des Kiewer Höhlenklosters hoch über dem Dnjepr noch einmal gesprengt werden könnten. Auf den Fotos erkennen wir die Bahnhöfe mit den Hunderttausenden von Fliehenden; von dort waren schon einmal Millionen ukrainischer Männer und Frauen zur Sklavenarbeit ins Deutsche Reich abtransportiert worden. Und nie hätten wir uns vorstellen können, dass einmal Trümmer des Kiewer Fernsehturms auf das Gelände von Babin Jar herabstürzen würden, wo im September 1941 über 33 000 Kiewer Juden ermordet wurden.
Auf die Bilder der deutschen Verbrechen in der Ukraine folgen nun die Bilder von den russischen Kriegsverbrechen heute. Jeder Ukrainer weiß, was es heißt, wenn Städte eingekesselt und in Blockaden ausgehungert werden.
Wir haben lange, zu lange der Chronik eines angekündigten Krieges zugesehen. Es war bequemer wegzusehen, wo wir doch alle gelernt hatten, dass man niemals wegsehen und zusehen darf, wenn Böses geschieht. Es hieß immer, man solle Putin nicht dämonisieren. Was er, der die Ukraine als selbständigen Staat, als eigenständige Nation vernichten will, in der Ukraine vorhat, kann man dieser Tage in Russland studieren. in Putins Drittem Imperium, das auf das Russische und das Sowjetische folgen soll, herrscht ein Totalitarismus neuen Typs. An die Stelle geschichtlicher Erinnerung, derer das Land so dringend bedarf, sind Mythen, Zensur, Hassreden getreten. Ein großer Exodus hat eingesetzt. Putin hat das Land in die Sackgasse geführt und er ist offensichtlich bereit, es mit in den Abgrund zu reißen.
Aber, es wäre nicht das erste Mal, dass ein sinnloser, opferreicher, verbrecherischer Krieg ein Regime zu Fall bringt. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass der Wahnsinn dieses Krieges spurlos an Russland vorübergehen wird. Sicher ist es aber, dass es derzeit die Ukrainer und die Ukrainerinnen sind, die Putins Krieg Einhalt gebieten. Sie haben schon jetzt sein Kalkül auf einen kleinen, schnellen Krieg zunichte gemacht und sie bezahlen den Preis, den die Europäer, der Westen oder das, was der Westen einmal war, zu zahlen nicht bereit war.
Das Wenigste, was wir an dieser Stelle heute tun können, ist den Ukrainern und Ukrainerinnen im Augenblick tödlicher Bedrohung zuzuhören und zu helfen, wo immer wir können. Slava Ukrajini!