„Wir brauchen zumindest einen kalten Frieden“

Sigmar Gabriel zu Deutschlands Haltung im Ukrainekrieg

Sigmar Gabriel hat in einem Debattenbeitrag für den SPIEGEL am 17. April 2022 die Irritation beschrieben, die durch die beispiellose Ausladung von Bundespräsident Steinmeier durch die Kiewer Regierung entstanden ist. Zwar äußert er Verständnis, dass in Anbetracht des „Zerstörungs- und Mordwahns der russischen Soldateska“ die bisherige deutsche Russland- und Energiepolitik kritisiert wird, doch seien Verschwörungstheorien über die Politik der Bundesregierung und der deutschen Verantwortungsträger nicht hinnehmbar. „Dazu zählt die auch von deutschen Medien wiedergegebene Behauptung, Steinmeier, seine Nachfolger im Amt und die Bundeskanzlerin seien quasi voraussetzungslos für den Abbau der nach der russischen Annexion der Krim verhängten Sanktion eingetreten.“

Dies war an die Einhaltung des Waffenstillstands durch Russland und den Rückzug seiner schweren Waffen aus der Ostukraine sowie die Zustimmung zu Uno-Friedenstruppen in der gesamten Ostukraine gebunden. Die Beendigung des seit 2014 durch Russland massiv unterstützten Krieges im Osten der Ukraine und die Kontrolle durch bewaffnete Uno-Soldaten hätte vermutlich die heutige Katastrophe vermieden. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte einen solchen Schritt vorgeschlagen. 

„Es gehört zu den Tragödien dieses Krieges, dass dieser Vorschlag nie mit wirklichem Einsatz von allen Beteiligten weiterverfolgt wurde, weil etwa zeitgleich der russische Präsident ebenfalls ein Uno-Mandat vorschlug – ähnlich aber nur in der Sprache und leider nicht im Inhalt. Der ernsthafte Wille zur Einigung auf ein solches Mandat war nicht erkennbar.“

Sigmar Gabriel nennt die Behauptung des ukrainischen Botschafters Melnyk, Bundespräsident Steinmeier habe in seiner aktiven Zeit als Politiker „seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft“, die bis in die heutige Regierung hineinwirkten, eine „weitaus gefährlichere Variante der Verschwörungstheorien“. Der Vergleich mit einem Spinnennetz insinuiere, „dass der frühere Kanzleramts- und Außenminister die Interessenvertretung Russlands in Deutschland mit organisiert habe“.

Melnyk argumentiere wahrheitswidrig und bösartig, weil Außenminister Steinmeier gemeinsam mit der damaligen Bundeskanzlerin Merkel „mehr als alle anderen in Europa dafür getan hat, die Ukraine zu unterstützen. Und deshalb muss man der Falschdarstellung öffentlich auch dann widersprechen, wenn man der Ukraine in der aktuellen Situation nicht nur mit Geld und guten Worten, sondern auch mit Waffen zur Seite stehen will.“

Gabriel führt zahlreiche Beispiele an, wie der heutige Bundespräsident – gemeinsam mit der Bundeskanzlerin – gegen Russland und Präsident Putin Positionen der Ukraine vertreten und einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet habe, „Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen, um mit den Verträgen von Minsk einen von beiden Seiten akzeptierten Weg heraus aus dem Krieg zu ebnen“.

„Dass diese Minsker Verträge nie wirklich eingehalten wurden, liegt ganz gewiss nicht an Frank-Walter Steinmeier oder an den Patronatsstaaten Deutschland und Frankreich. Der damalige ukrainische Präsident war nur unter dem Druck einer unmittelbar bevorstehenden schweren militärischen Niederlage zur Unterschrift bereit. Die politischen Vertreter der Ukraine haben deshalb nie so etwas wie »Ownership« für die Minsker Abkommen entwickelt, was wiederum die russische Führung ihrerseits nutzte, um sich ihrer Verantwortung für die Umsetzung der Abkommen zu entziehen.

Bis heute sind die Minsker Abkommen Gegenstand der innenpolitischen Auseinandersetzung in der Ukraine. Wer für die Minsker Abkommen Verantwortung trägt, gilt als Verräter. Deshalb droht dem früheren Präsidenten Petro Poroschenko jetzt eine Anklage wegen Hochverrat.

Wer die damalige Mission der OSZE in der Ostukraine besuchte, dem wurden die täglichen Brüche der Waffenstillstandsabkommen von beiden Seiten immer wieder drastisch geschildert. Es ist deshalb geradezu absurd, die damaligen diplomatischen Bemühungen Deutschlands und Frankreichs um eine friedliche Konfliktlösung im Donbass rückblickend in Grund und Boden zu kritisieren.“

Es werde einen »Tag danach« geben und es brauche Ideen, „wie eigentlich ein weniger »kalter Frieden« zwischen Russland und der Ukraine aussehen könnte.“

Die massive Kritik des ukrainischen Präsidenten treffe nicht nur Steinmeier als deutschen Bundespräsidenten sondern auch die frühere Kanzlerin Angela Merkel, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und auch seinen Amtsvorgänger Petro Poroschenko. „Alle stehen für die Minsker Verträge, die als Weg zur friedlichen Lösung des Konflikts in der Ostukraine eine Art regionaler Teilautonomie unter Wahrung der Staatszugehörigkeit zur Ukraine vorsahen. Exakt diesen Weg will der heutige ukrainische Präsident ausschließen, denn schließlich hat er seine Wahl auch der massiven Kritik an seinem Amtsvorgänger wegen dessen Zustimmung zu den Minsker Abkommen zu verdanken.“

Es gehe also nicht vordergründig um einen außenpolitischer Dissens über die frühere Russlandpolitik Deutschlands, dies sei auch ein Teil des innenpolitischen Meinungskampfes in der Ukraine.

Außenpolitik und Diplomatie könne nicht auf Dauer von Panzern und Raketen ersetzt werden. Letztlich habe man keine Alternative als den Raum für denkbare Verständigung zu vermessen.

„Gustav Stresemann handelte so und erreichte damit einst die Aussöhnung Deutschlands nach Westen. Willy Brandt erreichte auf diesem Weg die Aussöhnung nach Osten und schuf zugleich die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung.“

Deutschland stehe in voller europäischer Solidarität an der Seite der Ukraine – politisch, finanziell und auch militärisch, könne sich aber nicht jede Forderung der Ukraine zu eigen machen. Man sei sich in Deutschland der Konsequenzen einer Ausweitung dieses Krieges bewusst. Deshalb sei es richtig, dass die deutsche Bundesregierung schwere Waffen nur in Abstimmung mit der Vereinigten Staaten von Amerika an die Ukraine liefern kann, damit die Grenze zur eigenen aktiven Kriegsteilnahme gegen Russland nicht überschritten wird.

„Die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen und zugleich über den »Tag danach« nachzudenken, ist kein Widerspruch, sondern verbindet das Notwendige im Heute mit dem Hinreichenden im Morgen. Frank-Walter Steinmeier hat in all seinen Reden betont, dass Verhandlungen nicht aus einer Position der Schwäche geführt werden können und militärische Stärke nötig ist, um Frieden und Freiheit zu sichern. Deshalb hat er dem Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, ebenso zugestimmt wie der Stationierung der Bundeswehr in Litauen.

Dafür steht der Außenpolitiker Frank-Walter Steinmeier ebenso, wie er als Bundespräsident ein Staatsmann ist, der mit Ausdauer und Augenmaß die politische Lösung sucht. Ihn für diese Haltung zu kritisieren, ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch gefährlich. Weil der Frieden anders nicht erreicht werden kann.“

Der Beitrag von Sigmar Gabriel im vollen Wortlaut: 

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sigmar-gabriel-wir-brauchen-zumindest-einen-kalten-frieden-gastbeitrag-a-411895f4-557e-42e7-9453-c62baa490d82

Interview mit Sigmar Gabriel u.a. über die Reaktion von Botschafter Melnyk auf den Spiegel-Artikel im Deutschlandfunk am 20.04.2022: 

https://www.deutschlandfunk.de/interview-sigmar-gabriel-spd-zu-streit-mit-ukrainischem-botschafter-melnyk-dlf-8e7d0407-100.html