von Wolfgang Eichwede
Der Text erschien am 20.12.2021 in der Beilage „Peterburgskij Dialog“ der Moskauer Zeitung „Kommersant“.
Am 29. und 30. Oktober 1988 versammelten sich im Moskauer „Domkino“ (Haus des Kinos) Hunderte von Menschen, um MEMORIAL zu gründen – ich hatte das Glück, dabei zu sein. Wir standen auf, um uns vor denen im Saal zu verbeugen, die den Terror Stalins überlebt hatten und anwesend waren. Keinen Monat später fand in einer Elektrofabrik eine „Woche des Gewissens“ statt. An der Wand hing nicht nur eine Karte der Sowjetunion, auf der alle Lagerorte eingezeichnet waren. Neben ihr hatten die Organisatoren lange weiße Flächen angebracht, auf denen Tausende von Namen eingetragen wurden, deren Schicksal im GULAG aufgeklärt werden sollte – ehemalige Mitgefangene trugen Vermerke ein. Eine Spurensuche, die von Tränen begleitet war. Auf dem Kalitnikov-Friedhof gedachten wir der im Jahre 1937 Erschossenen. Als ich Weihnachten für wenige Tage zuhause in Bremen war, berichtete ich, dass sich in Moskau aus den Tiefen seiner Geschichte ein neues Land bilde. Wir in Deutschland hätten das nach dem Kriege nicht vermocht. In Russland komme von innen, was bei uns nach dem Kriege nur von außen ermöglicht worden sei.
Memorial als Mahner in den Jahren des Umbruchs
Die Weltmacht Sowjetunion erlebte aufregende Jahre. Schließlich brach sie in ebenso dramatischen wie letztendlich zivilen Formen auseinander. War für den Kollaps des Imperiums seine innere Schwäche verantwortlich, hatte die Friedlichkeit des Wandels ihren Kern in der moralischen Stärke derer, die den Widerstand gegen die alte, diktatorische Ordnung verkörperten. Es war ein Sieg der gewaltlosen Disziplinierung der Macht. MEMORIAL machte ein Herzstück dieses Sieges aus. (In Klammern freilich zu notieren ist, dass auch die Führung des Landes unter Michail Gorbatschow auf den Einsatz massiver militärischer Gewalt verzichtete, als die Geschichte über ihn hinwegging. Der Präsident erkannte seine Ohnmacht an. So bargen der nahezu friedliche Untergang der UdSSR und der Auftakt des neuen Russlands alle Chancen in sich, in der internationalen Politik, insbesondere in Europa neue Maßstäbe zu setzen.) Wir im Westen konnten nur lernen. Die „Helden“ waren die Völker oder Gesellschaften des europäischen Ostens.
Doch erwiesen sich die neunziger Jahre als eine turbulente Epoche mit krassen Widersprüchen. Zu den hohen sozialen Folgekosten der kaputten Ordnung kamen die nicht weniger hohen Kosten einer privatwirtschaftlichen Ordnung, die so gut wie keine Regeln kannte. In dieser wilden Zeit, in der jeder Halt verloren zu gehen schien und sich viele Hoffnungen des Umbruchs auflösten, wirkte MEMORIAL wie ein ruhender Pol. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten nicht nur als Historiker an der erschütternden Geschichte des „Großen Terrors“ und versuchten, Millionen von Menschen ihre zerstörte oder verschwiegene Biographie zurückzugeben. MEMORIAL warb und wirbt ebenso für die Würde des Menschen in der Gegenwart, für die Herstellung und Einhaltung des Rechts. Ebenso ist MEMORIAL eine Kraft des Friedens. Wie es die beiden russischen Kriege in Tschetschenien (1994/5 und 1999/2000) heftig kritisierte, protestierte es mit scharfen Worten gegen den Krieg der NATO gegen Serbien (1999), um sich 2014 gegen die das Völkerrecht brechende Annexion der Krim und die militärische Einmischung Russlands in der Ukraine zu wenden. Die Menschenrechtsorganisation kennt in der Verurteilung von Kriegen keine Einseitigkeiten. Wer MEMORIAL mundtot macht, nimmt dem Frieden eine Stimme.
Vor wenigen Wochen hat die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau ein Verfahren eingeleitet, MEMORIAL zu „liquidieren“. Doch ist der innere Feldzug der Staatsmacht gegen Einrichtungen, die sich „unabhängig“ von ihr definieren, nicht auf dieses eine Beispiel beschränkt. Viele zivilgesellschaftlichen Institutionen stehen gegenwärtig in Russland als „ausländische Agenten“ auf der Anklagebank. Nach dem Stand von Ende November sind es insgesamt 173, darunter Vereinigungen, die sich für die Rechte von Frauen, von Minderheiten, von Medien, von Regionen oder eben für die Rechte Andersdenkender einsetzen. Mehr als hundert haben sich aus Angst vor Verfolgung von selbst aufgelöst. Am Horizont steht ein Russland ohne Freiheit.
Memorial und Deutschland
Für mein Land – Deutschland – hat MEMORIAL eine besondere Bedeutung. Indem sie das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der ehemaligen UdSSR, die während des Krieges als Sklaven in Hitlers Deutschland arbeiten mussten, in hunderttausenden von Zeugnissen dokumentierte, trug sie wie niemand sonst dazu, dass das heutige Deutschland den Opfern von damals Entschädigungen zahlte. MEMORIAL hat praktische Politik im Interesse russischer, belarussischer und ukrainischer Bürger geleistet. Es ist das historische Verdienst von Lena Zhemkova, die heute als Geschäftsführerin von MEMORIAL in Moskau als „ausländische Agentin“ vor Gericht steht, mit der Initiierung dieses Projektes für die Menschen in ihrem Lande mehr getan zu haben als alle ihre Regierungen. Irina Scherbakowa gehört als Historikerin von MEMORIAL zu dem wissenschaftlichen Beirat des NS-Konzentrationslagers von Buchenwald.
MEMORIAL als Botschafter Russlands
Doch wirkt die Organisation weit über Deutschland und Russland hinaus. Sie ist eine internationale Institution – sie wirkt in Polen, in Italien, in Frankreich, in den USA, in einer großen Zahl von Ländern. Alle brauchen ihren Rat. Von daher ist es geradezu absurd, sie als Sachwalter fremder Staaten oder als „ausländischen Agenten“ in Russland zu deklarieren. MEMORIAL ist ein Botschafter Russlands in der Welt. Seine Sprache und sein Votum sind nicht nur für das eigene Land – sie sind für uns alle in Europa und darüber hinaus unverzichtbar. Wer diese Stimme zum Schweigen bringen will, verstößt gegen all das, wofür die russische Literatur von Lew Tolstoj bis Anna Achmatowa steht. Er verstößt fundamental gegen russische Interessen.
Lassen Sie mich ein paar persönliche Worte einbauen. Wahrscheinlich kenne ich nahezu alle Akteure von MEMORIAL. In den zurückliegenden Jahrzehnten betrachteten sie die Entwicklung ihres Landes mit wachsender Sorge. Sie verwarfen den „wilden“ Kapitalismus der neunziger Jahre, sie stemmten sich gegen den autoritären Weg Vladimir Putins. Aber: sie griffen niemals nach der Macht. Ihr Ziel war und ist es, die Macht zu disziplinieren und auf Prinzipien des Rechts zu verpflichten. Mit Arsenij Roginskij (1946-2017), Gründer und Direktor von MEMORIAL, verband mich eine tiefe Freundschaft. Er war ein politischer Kopf, um mir dennoch immer wieder zu sagen, unsere Aufgabe ist es nicht, in die politischen Machtspiele einzugreifen, sondern sie menschenrechtlichen Regeln zu unterwerfen. Um dieses Verständnis von Politik jenseits von Machtambitionen zu verdeutlichen: Sergej Kowaljow (1930-2021), einer der großen Dissidenten der alten Sowjetunion, nahezu ein Jahrzehnt aus purer Willkür im GULAG, schließlich nach 1991 ein engagierter Deputierter in den Parlamenten des neuen Russlands, warb in stundenlangen Gesprächen mit mir für eine Kultur des Rechts. Die Lehre seines dramatischen Lebens sei, eine Gesellschaft könne und dürfe nicht ohne das Recht existieren, das auf der Würde des Menschen basiere. Ich saß dem hochbetagten Kowaljow gegenüber und wusste: hier spricht ein Mann, der den kommenden Generationen die eigenen Leiden ersparen möchte.
Fürchtet Russlands Präsident den Ruf von MEMORIAL nach Recht, nach der Ächtung von Gewalt und der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte? Offensichtlich sollen die Mobilisierung nationaler Gefühle und die kalkulierte Konfrontation mit der Außenwelt helfen, das Land im Innern zusammenzuschließen und die herrschenden Machtstrukturen zu zementieren. MEMORIAL geht mit seinem Plädoyer für Offenheit und eine universale Vielfalt im Namen der Menschenrechte einen anderen Weg. Ist es nicht bitter, dass sich heute eine Organisation, die die stolze Tradition der Selbstbefragung fortschreibt, die die russische Literatur im 19. Und 20. Jahrhundert in unnachahmlicher Weise auszeichnet, nun laut Regierungsbeschluss selbst als „ausländischen Agenten“ bezeichnen muss und vom Verbot bedroht ist?
Nein, wer Russland schätzt und liebt – wie ich seit mehr als sechzig Jahren -, schaut mit Hochachtung auf seine Kultur des freien Wortes und des Ungehorsams, nicht auf den Kontrollanspruch der Behörden.
Und dieses Russland des unabhängigen Denkens verkörpert die wahre Größe des Landes.
Die russische Fassung des Artikels finden Sie hier als pdf-Dokument.
Prof. Dr. Wolfgang Eichwede, Historiker, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), war Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Das Bemühen um Freundschaft mit Russland müsse der Machtpolitik Putins „auch seine Grenzen zeigen – Grenzen, die sich aus dem Völkerrecht und den Rechten der kleineren, eben nicht so mächtigen Staaten ergeben“, schrieb Eichwede im Jahre 2018.