Aktion für mehr Demokratie unterstützt die Gemeinsame Erklärung zur Zwangsauflösung von Memorial
Berlin, 28. Dezember 2021 – Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat heute die Zwangsauflösung von Memorial International wegen angeblicher Verstöße gegen das „Agentengesetz“ angeordnet. Dies ist ein schwerer Schlag für die russische Gesellschaft, die Gesellschaften seiner Nachbarstaaten und für ganz Europa. Memorial steht wie keine andere Organisation für ein offenes, menschenfreundliches, demokratisches Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht. Seine von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow vor drei Jahrzehnten begründete Arbeit der Auseinandersetzung mit der Repressionsgeschichte der Sowjetunion, der Rehabilitierung von Opfern und der Verteidigung der Menschenrechte heute hat Memorial weltweit viel Anerkennung und Respekt eingebracht. Auch für die deutsche Geschichtsforschung und Erinnerungspolitik hat Memorial als Initiator und Partner bei der Aufarbeitung des Schicksals Hunderttausender sog. „Ostarbeiter/innen“ die entscheidende Rolle gespielt. Die große internationale Bedeutung Memorials manifestiert sich in einer Vielzahl an Solidaritätsbekundungen aus aller Welt.
Mit dem Verbot von Memorial – dem moralischen Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft – gibt der russische Staat ein erschütterndes Selbstzeugnis ab: Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren. Er kriminalisiert die internationale zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zum Schaden des eigenen Landes. Und er verletzt die Grundwerte der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Russland selbst unterzeichnet hat.
Viele von uns sind mit Memorial seit mehr als 30 Jahren eng verbunden. So wie wir Memorial zu unterstützen versuchen, hat Memorial uns in diesen 30 Jahren unendlich viel Unterstützung zukommen lassen – wissenschaftlich, politisch, moralisch und menschlich. Memorial ist zu einer internationalen Gemeinschaft geworden, deren Arbeit für Demokratie, Menschenrechte und ehrliche Aufarbeitung von Geschichte auf jeden Fall fortgeführt wird.
Wir verurteilen das politisch motivierte Vorgehen der russischen Justiz gegen Memorial. Das Gerichtsverfahren hat die ganze Absurdität des Gesetzes über „ausländische Agenten“ schonungslos offengelegt. Die Intention des Gesetzes ist politische Repression, seine Ausführungsbestimmungen sind so diffus, dass es vom Geschmack der jeweiligen Anklagevertretung bzw. dem von ihr jeweils gerade verfolgten Zweck abhängt, ob Einhaltung oder Verstoß festgestellt wird. Wir fordern die Aufhebung des Agentengesetzes und aller weiteren russischen Gesetze, die jede Form internationaler zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit mit unabhängigen russischen Partner/innen unmöglich machen sollen.
Die Bundesregierung und die Europäische Union fordern wir auf, alles in ihren Möglichkeiten Stehende zum Erhalt der Arbeit und des Archivs von Memorial und zum Schutz seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu tun.
Heinrich-Böll-Stiftung
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde
Deutsches PEN-Zentrum
Deutsch-Russischer Austausch e.V.
Europäischer Austausch gGmbH
Zentrum Liberale Moderne
Memorial Deutschland e.V.
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Amnesty International Deutschland
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
Lew-Kopelew-Forum
28. Dezember 2021
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Organisation Memorial muss gerettet werden!
Erklärung der Aktion für mehr Demokratie vom 21.11.2021
Die Menschenrechtsorganisation Memorial ist in ihrer Existenz bedroht. Auf Antrag der russischen Generalstaatsanwaltschaft soll das Oberste Gericht Russlands am 25. November 2021 die Auflösung von Memorial-International beschließen. (Das Gericht vertagte die Entscheidung mehrfach, zuletzt auf den 28.12.2021.) Zugleich soll ein Moskauer Gericht über den Fortbestand des Menschenrechtszentrums Memorial urteilen.
Memorial leistet seit seiner Gründung in der Periode der Perestroika eine für die Bürger Russlands und der ehemaligen Sowjetrepubliken verdienstvolle und anerkannte Aufklärungsarbeit über stalinistische Verbrechen. Memorial dokumentierte über Jahrzehnte auch das Schicksal hunderttausender Menschen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden.
Weil die Arbeit von Memorial unter anderem von der Soros-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung finanziell unterstützt wird, außerdem vom UNHCR und vom Europarat Hilfe erfährt, wurde die Menschenrechtsorganisation 2016 durch das russische Justizministerium auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Für den Fall einer Auflösung, der nun befürchtet werden muss, geraten die in Archiven und Bibliotheken gesammelten Dokumentationen, die Opferkarteien und Aufzeichnungen von Häftlingen, Samisdat-Publikationen und der Verlag von Memorial in Gefahr, ausgelöscht zu werden.
Internationaler Protest muss dies verhindern!
Die Akademie der Künste in Berlin, deren Präsident ich über drei Wahlperioden war, hat mehrfach Sergej Kowaljow eingeladen. Der im August dieses Jahres verstorbene Menschenrechtsaktivist vertrat mehrere Jahre Memorial im russischen Parlament. Kowaljow wie zuvor auch Lew Kopelew haben mit ihren Reden in der Akademie im Geist der europäischen Verständigung immer an die deutsch-russische Verantwortung appelliert, die Erinnerung an die Verbrechen des Hitler- wie des Stalinregimes wachzuhalten.
Russlands Behörden und der Staatsführung muss bewußt werden, welch immensen Schaden sie im Falle einer Auflösung von Memorial der russischen Zivilgesellschaft zufügen.
Ich schließe mich den Protesten von amnesty international und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. an und hoffe, dass die deutsche Außenpolitik alle diplomatischen Kanäle nutzt, um Memorial international und das Menschenrechtzentrum Memorial vor der Zerstörung zu bewahren.
Klaus Staeck
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Memorial geht auch uns an. Kolumne vom 16.12.2021 in der Frankfurter Rundschau.
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„Der russische Staat nimmt uns in Geiselhaft“ Podcast von MEMORIAL Deutschland mit Irina Scherbakowa“
Die Attacken gegen Memorial steigerten sich seit Jahren. Verleumdungen in den Medien, Übergriffe von radikalen Gruppen. Nun der vorübergehende „Höhepunkt“: der Antrag auf Auflösung von MEMORIAL international und dem MEMORIAL Menschenrechtszentrum. Im neuen Podcast von MEMORIAL Deutschland erklärt Irina Scherbakowa von MEMORIAL International den Hergang eines absurden Vorgangs, was eine Schließung für die Menschenrechte in Russland bedeuten würde und weshalb der Prozess vor allem auch ein Zeichen an den Westen ist.
Im Gespräch mit MEMORIAL Deutschland spricht Irina Scherbakowa von Folter gegen Andersdenkende und erhebt schwere Vorwürfe gegen den russischen Staat.“
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Frankfurter Rundschau, 24.11.2021 (online)
Memorial: „Wir werden weitermachen“
Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial soll aufgelöst werden, doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben ihren Kampf nicht verloren. Natalie Sablowski hat sie in Moskau besucht.
Gleich neben einem Moskauer Park, am nördlichsten Streifen des Gartenrings, steht ein neoklassizistischer Stalinbau aus den 1960er Jahren. Mit ihren heruntergelassenen Rollläden wirken die riesigen Fenster der Hausfront wie zwei geschlossene Augen. Das Gebäude sieht von außen leer aus. Doch Alexandra Poliwanowa öffnet von innen die Tür. Sie arbeitet seit zehn Jahren für Memorial. Die russische Menschenrechtsorganisation soll aufgelöst werden; die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihr vor, systematisch gegen das „Agenten-Gesetz“ verstoßen zu haben. An diesem Donnerstag findet der erste Gerichtstermin statt.
Alexandra Poliwanowa kuratiert das Memorial-Projekt Topographie des Terrors, das die stalinistischen Säuberungen in der Moskauer Region aufarbeitet. „Wenn mal nicht gerade eine Gruppe das Haus stürmen will, sind hier normalerweise nicht so viele Menschen im Haus“, scherzt sie und spielt damit auf einen Zwischenfall von vor wenigen Wochen an: Mitte Oktober stürmte eine Gruppe junger Menschen, alle vermummt, eine Filmvorführung im Memorial-Gebäude.
Wut, Trauer und Angst müssen in konstruktives Handeln umgewandelt werden
Der Eingangsbereich ist hell erleuchtet. In dem nach rechts und links weitverzweigten langen Flur, der die offenen Räume miteinander verbindet, führt eine Steintreppe nach oben. An den Wänden sind Ehrungen, Poster und wichtige Mitteilungen der vergangenen Jahre zu sehen; das Licht legt alles unter einen warmen Schleier. Seit der Gründung 1989 sammelt Memorial Quellen und vervollständigt stetig seine Datenbank mit den Namen politischer Gefangener und Ermordeter. Mit dem Ziel, dass sich die Schrecken des stalinistischen Terrors nicht wiederholen. Eine Mammutaufgabe, von der die Wände des Flurs erzählen. Menschen grüßen im Vorbeigehen und streifen geschäftig aneinander vorbei. Lachen hallt durch den Flur.
„Als der Brief des Obersten Gerichts ankam, war das im ersten Moment für uns alle ein Schock“, berichtet einer der Mitarbeiter, der sich hier um die Führungen kümmert. „Das gesamte Kollektiv kam zusammen und beriet über das weitere Vorgehen. Innerhalb von einer Stunde war klar, wir setzen jetzt ein Statement auf und bilden eine Task Force.“ Laut der Geschäftsführerin Jelena Schemkowa war es als nächstes wichtig, Gefühle wie Wut, Trauer oder Angst in konstruktive Handlungen umzuwandeln. „Wir konnten uns schnell fangen und zusammen halten.“
Memorial ist ein Teil der russischen Gesellschaft
Innerhalb kürzester Zeit standen mehrere Aktionen auf dem Plan. „Die Medienkampagne könnte natürlich intensiver sein“, sagt Alexandra Poliwanowa, die die Kampagne leitet, „Aber wir haben in Russland die Situation, dass nicht jeder sagen kann, was er über Memorial denkt.“ Die Kernbotschaft der Kampagne macht klar, Memorial ist keine juristische Organisation, die einfach zerstört werden kann. Memorial ist ein Teil der Gesellschaft.
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Appell an deutsche Außenpolitik
„Die Menschenrechtsorganisation Memorial leistet seit ihrer Gründung in der Periode der Perestroika eine für die Bürger Russlands und der ehemaligen Sowjetrepubliken verdienstvolle und anerkannte Aufklärungsarbeit über stalinistische Verbrechen. Memorial dokumentierte über Jahrzehnte auch das Schicksal Hunderttausender Menschen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden.
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Für den Fall einer Auflösung (…)geraten die in Archiven und Bibliotheken gesammelten Dokumentationen, die Opferkarteien und Aufzeichnungen von Häftlingen, Samisdat-Publikationen und der Verlag von Memorial in Gefahr, ausgelöscht zu werden. Internationaler Protest muss dies verhindern!
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Wir schließen uns den Protesten von Amnesty International und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. an und hoffen, dass die deutsche Außenpolitik alle diplomatischen Kanäle nutzt, um Memorial international und das Menschenrechtszentrum Memorial vor der Zerstörung zu bewahren.“
Klaus Staeck, Grafiker, Rechtsanwalt und FR-Kolumnist
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Alexandra Poliwanowa legt eine Handvoll Sticker mit einem großen „Wir“ in kyrillischen Lettern beiseite und setzt sich an ihren Schreibtisch. Das „Wir“ steht für Memorial. Künstlerinnen und Künstler boten ohne Honorar Logo-Designs und Illustrationen an. Vergangene Woche bestellte Memorial Tausende Merchandise-Produkte. Masken, T-Shirts und Aufkleber in unterschiedlichen Varianten sollen für Sichtbarkeit sorgen. Die Rückmeldung aus der Gesellschaft ist gewaltig. „Das berührt uns sehr und bestätigt Memorials gesamte Bedeutung für die Gesellschaft.“ Einige Kunstkritiker:innen und Kurator:innen stellen gerade zu Gunsten Memorials eine Ausstellung zusammen. Es soll sogar ein Festival geben. Ginge es nicht um das drohende Ende Memorials, könnte der Eindruck entstehen, das Zentrum feiere ein Jubiläum.
Derweil arbeitet ein Team von etwa zehn Anwältinnen und Anwälten an einer juristischen Strategie für die bevorstehende Gerichtssitzung am 25. November. Natajla Morosowa ist seit langem als Juristin für Memorial tätig. Das Team sei auf eine Vielzahl stümperhafter Fehler gestoßen. „Den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hat scheinbar ein Praktikant geschrieben. Niemand hat ihn korrigiert.“ Laut Natalja Morosowa sind wichtige Stellen im Antrag nicht ausformuliert. Vieles sei sogar grob hineinkopiert worden.
Die Zukunft von Memorial ist für die Aktivistin vorhersehbar
Trotz der schwerwiegenden Fehler nahm das Oberste Gericht den Antrag an. „Das ist ein eindeutiges Signal“, meint die Anwältin, „egal, was hier steht, das Oberste Gericht wird zu Gunsten der Generalstaatsanwaltschaft entscheiden. Wir haben in der Vergangenheit bereits ähnliche Verfahren beobachtet“. Natalja lacht. „Es wäre lustig, wäre es nicht so traurig.“
Für Jelena Schemkowa ist die Zukunft von Memorial vorhersehbar. „Die Auflösung einer NGO ist nach bestimmten Schritten geregelt. Sollte es zum Schlimmsten kommen, wissen wir ganz genau, was uns erwartet.“ Die Sammlung gehört komplett Memorial und kann der Organisation nicht weggenommen werden. Der größte Schlag wäre der Verlust der Räumlichkeiten, „aber dann finden wir eben neue“.
„Sollte das Gericht an diesem Donnerstag für eine Auflösung von Memorial entscheiden, gehen wir in unserem nächsten Schritt in die Berufung“, sagt die Anwältin. Damit sei es möglich, das Verfahren in der Schwebe zu halten. „Memorial verschwindet nicht einfach im Nichts.“ Wie das Urteil auch ausfällt, viele der Aktivitäten werden weitergeführt. Zum Beispiel werden die Exkursionen an die Orte des Terrors weiterhin stattfinden, zumal sich die Zahl der Besucher:innen in den vergangenen Wochen verdoppelt hat.
Die Stimmung im Memorial-Gebäude selbst ist positiv. Es herrscht extremer Zeitdruck. Aber niemand verzweifelt daran. Es fühlt sich an, als verbinde die Menschen etwas. Etwas, das unzerstörbar scheint und dem keine juristische Grundlage zur Weiterexistenz entzogen werden kann. Jelena Schemkowa ist überzeugt: „Memorial wird in einer anderen Form weiterleben. Sie können uns als Organisation auflösen, aber wir sind ein Kollektiv, und niemand kann uns an unserer bloßen Arbeit hindern. Wir werden weitermachen.“
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Deutschlandfunk, Kultur heute, 23.11.2021
„Memorial muss bleiben“ – Klaus Staeck zu seinem Protestschreiben (Interview nachzuhören von min 7 bis min 12 der Sendung)