FÜR EINE STARKE SPD

Aufruf zur Bundestagswahl am 23. Februar 2025

Wenn am 12. Dezember der Kanzler im Bundestag die Vertrauensfrage stellte und diese, wie zu erwarten, verliert, war das Experiment der Ampelkoalition Geschichte und der Weg für Neuwahlen frei. Unvermeidlich wurden vorgezogene Wahlen, weil die FDP, wie mittlerweile durch Recherchen belegt ist, seit einiger Zeit ein Falschspiel betrieb, statt ihrer Regierungsverantwortung in der schwierigen politischen Lage des Landes gerecht zu werden.

Die SPD hat in Zeiten wie diesen stets bewiesen, dass sie die Interessen des Landes über kleinkarierte Machtkalküls stellt. Heute herrscht Krieg in Europa, und in der ganzen Welt verschieben sich Einflusssphären und Machtverhältnisse. In vielen Ländern gerät die Demokratie durch autoritäre und rechtsradikale Strömungen unter Druck. Auch in Europa. In einer solchen Situation wird eine starke und handlungsfähige sturmerprobte Sozialdemokratie gebraucht. Wir sind uns bewusst, dass die Ampelkoalition in mancher Hinsicht die Erwartungen der Wähler nicht erfüllt hat. Aber jetzt geht es um mehr, es geht darum den Durchmarsch der antidemokratischen und europafeindlichen AfD zu verhindern und in Deutschland, dem Kernland Europas, eine handlungsfähige Demokratie zu erhalten. Das aber geht nach Lage der Dinge nur mit einer starken SPD.

Nur eine starke SPD kann verhindern, dass der deutsche Sozialstaat immer weiter abgebaut wird und überfällige Reformen im Bildungs- und im Gesundheitssystem weiter auf die lange Bank geschoben werden. Nur mit einer starken SPD wird es gelingen, endlich die lange vernachlässigte Infrastruktur, insbesondere im Verkehrssektor und bei der Digitalisierung, zu modernisieren.

Nur mit einer starken SPD kann verhindert werden, dass in Deutschland provinzieller Kleingeist und kulturelle Provinzialität die Überhand gewinnen.

Nele Hertling . Klaus Staeck . Johano Strasser . Gerhard Steidl . Yakup Divrak . Peter Brandt . Peter Munkelt . Uwe Karsten Heye . Sabine Heye . Werner Schaub . Andreas Pitz . Margit Nissen . Thomas Ranft . Kirsten Klöckner . Johannes Pütz . Norbert Hilbig . Klaus Groh und weitere 210 weitere Unterzeichnerinnen und Unterzeichner

17. Januar 2025

Aufruf für Boualem Sansal

Wir veröffentlichen einen Aufruf der Geschäftsstelle Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und des Internetportals Perlentaucher vom 27.11.2024_

Boualem Sansal, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels des Jahres 2011, droht wegen einer Meinungsäußerung zur algerischen Geschichte eine jahrelange Gefängnisstrafe. Sansal ist algerischer und französischer Staatsbürger, also Europäer. Wir, deutsche und internationale Schriftsteller und Journalisten und Repräsentanten von Kulturorganisationen, fordern Solidarität mit Boualem Sansal. An die Adresse der algerischen Regierung lässt sich nur eines sagen: Wegen seiner Meinung darf kein Schriftsteller eingesperrt werden. Wir verlangen seine sofortige Freilassung! Wir unterstützen die Bemühungen von Außenministerin Annalena Baerbock, Aufklärung über die Lage Sansals zu erhalten.

Tagelang war der algerische Schriftsteller Boualem Sansal verschwunden. Gestern nun wurde er in Algier einem Gericht vorgeführt. Noch ist nicht klar, ob er einen unabhängigen Rechtsbeistand hat. Belangt werden soll er wegen Äußerungen zur algerischen Geschichte – nach algerischen Paragrafen können ihm dafür drakonische Strafen drohen. Ein Schriftsteller soll für seine Meinung ins Gefängnis.

Boualem Sansal ist ein dezidierter Kritiker des algerischen Regimes und des Islamismus. Er scheut sich auch nicht, einen „offiziellen“ Islam anzuprangern, der weder in den muslimischen noch in den westlichen Ländern eine Handhabe gegen den Islamismus zustande gebracht hat. Man muss nicht seiner Meinung sein. Aber wer diskutieren will, der darf sich sein Gegenüber nicht rauben lassen.

Sansals französischer Anwalt François Zimeray fürchtet laut RTL, dass Sansal nach Äußerungen, die den algerischen Nationalismus provozieren, der Spionage angeklagt werden könnte und nach einem Willkürprozess für lange Zeit ins Gefängnis gesteckt wird.

Sansal ist algerischer und französischer Staatsbürger, also Europäer. Wir, deutsche und internationale Schriftsteller und Journalisten und Repräsentanten von Kulturorganisationen, fordern Solidarität mit Boualem Sansal.

An die Adresse der algerischen Regierung lässt sich nur eines sagen: Wegen seiner Meinung darf kein Schriftsteller eingesperrt werden. Wir verlangen seine sofortige Freilassung!

Wir unterstützen Außenministerin Annalena Baerbock und ihren französischen Kollegen Jean-Noël Barrot in ihrem Bemühen, von der algerischen Regierung Aufklärung über den Verbleib Boualem Sansals zu erhalten und die deutsche und europäische Öffentlichkeit über die Antwort der algerischen Regierung informieren. Sansal braucht einen unabhängigen Rechtsbeistand und Zugang zu Familie, Freunden und Repräsentanten der französischen Botschaft.

Wer Boualem Sansal, wie sein Kollege und Freund Kamel Daoud es ausdrückte, „verschwinden macht“, schädigt im Moment einer extremen Polarisierung die Möglichkeit von Debatte überhaupt. Eine solche Politik zielt darauf ab, Demokratie, auch in Europa, zu zerstören. Wenn die Demokratien nicht gegen eine solche Politik einstehen, sind sie verloren.

Anne Applebaum (Friedenspreisträgerin 2024)

Aleida Assmann (Friedenspreisträgerin 2018)

Seyla Benhabib (Adorno-Preisträgerin 2024 und Friedenspreis-Laudatorin von Carolin Emcke 2016)

Carolin Emcke (Friedenspreisträgerin 2016)

David Grossman (Friedenspreisträger 2010)

Daniel Kehlmann (Autor und Friedenspreis-Laudator von Salman Rushdie 2023)

Navid Kermani (Friedenspreisträger 2015)

Claus Leggewie (Politikwissenschaftler)

Jo Lendle (Verleger Carl Hanser Verlag und Mitglied im Friedenspreis-Stiftungsrat)

Wolf Lepenies (Friedenspreisträger 2006)

Herta Müller (Literaturnobelpreis 2009)

Michael Naumann (Staatsminister a.D. und Friedenspreis-Laudator von Péter Esterházy 2004)

Orhan Pamuk (Friedenspreisträger 2005 und Nobelpreis für Literatur 2006)

Joachim Sartorius (Autor und Übersetzer, Friedenspreis-Laudator von Orhan Pamuk 2005)

Karin Schmidt-Friderichs (Börsenvereinsvorsteherin und Mitglied im Friedenspreis-Stiftungsrat)

Thierry Chervel (Perlentaucher)

Eva Quistorp (Politikerin)

Martin Schult (Börsenverein)

__________________

Claus Leggewie: Kriminalisierung einer abweichenden Meinung (Beitrag für Perlentaucher)

Burgtheater-Team warnt vor FPÖ-Regierung

In der österreichischen Zeitung DER STANDARD hat sich das Produktionsteam des Burgtheaters – Elfriede Jelinek, Mavie Hörbiger, Birgit Minichmayr, Caroline Peters, Claus Philipp, Milo Rau – zu Wort gemeldet: Widerstand jetzt! Stopp der FPÖ!

„Die Freiheitliche Partei würde, an die Macht gekommen, Österreich in einen Ständestaat 2.0 umwandeln. Ihr Wahlprogramm ist eindeutig. Das Schweigen der Kunst- und Kulturszene beunruhigt. Wir fordern echte Demokratie und wahre Freiheit!“
Der Wortlaut des am 3. September 2024 im STANDARD veröffentlichten Beitrags:

In seinem Gastkommentar warnt das Team der „Burgtheater“-Produktion – die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die Burgtheater-Schauspielerinnen Mavie Hörbiger, Birgit Minichmayr und Caroline Peters, der Dramaturg Claus Philipp und der Regisseur Milo Rau – vor den Auswirkungen einer FPÖ-Regierung auf das Land.
„Diese Leute wollen also über uns bestimmen. Das kann unmöglich von uns angenommen werden.“ (Elfriede Jelinek bei der Ausrufung der Freien Republik Wien, Mai 2024)
Im Mai 2025, genau 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wird Elfriede Jelineks 45 Jahre lang für Österreich gesperrtes Stück „Burgtheater“ endlich aufgeführt* – im Burgtheater selbst! Regie führt Milo Rau, in den Hauptrollen sind Mavie Hörbiger, Birgit Minichmayr und Caroline Peters zu sehen. Das Stück der Nobelpreisträgerin, das 1985 bei seiner Uraufführung in Bonn zu einem großen Theaterskandal führte, beschreibt die beschämende Rolle, die die Kultur- und insbesondere Theaterszene in Nationalsozialismus und Faschismus – vor und nach dem Krieg – spielte, sei es aus Gleichgültigkeit oder Mitläuferinnen- und Mitläufertum. Nicht noch einmal, sagen wir, das künstlerische Team von „Burgtheater“, und wenden uns heute, wenige Wochen vor den österreichischen Nationalratswahlen, an die Öffentlichkeit.

Von Ungarn bis in die Slowakei sitzen rechtsradikale Parteien in den Regierungen und schaffen die freiheitlichen Rechte, die Presse- und Kunstfreiheit nach und nach ab. Gerade erst wurde der Generaldirektor des Nationaltheaters der Slowakei abgesetzt – von einer Ministerin, die den „Genderwahn“ durch eine „nationale Kultur“ ersetzen will. Die Wiener Festwochen protestierten in einem offenen Brief an den slowakischen Premierminister Robert Fico, den bis heute tausende europäische Bürgerinnen und Bürger unterschrieben haben.

Radikale Ideologie
Aber was diesen Sommer in der Slowakei geschieht, kann schon im Herbst zur Realität werden in Österreich, sollte die FPÖ an die Macht kommen. Die Freiheitliche Partei und ihr „Volkskanzler“ fordern einen sofortigen Stopp der „staatlichen Zwangsabgaben“ (sprich Subventionen) für „woke Events“ wie den European Song Contest und die Wiener Festwochen – nur ein besonders absurder Punkt in einem Wahlprogramm, das unter dem auf Joseph Goebbels‘ „Festung Europa“ anspielenden Titel „Festung Österreich“ die Umwandlung der Republik Österreich in eine Art Ständestaat 2.0 fordert mit autoritärer Regierung und radikal-nationalistischer „Österreich zuerst“-Ideologie.
Das auf kulturelle und ethnische Homogenität setzende Wahlprogramm lässt klassische Rechtsaußenparteien wie die deutsche AfD oder das französische Rassemblement National konservativ wirken. Denn was man bei ihren europäischen Partnerparteien in geheimen Chatprotokollen suchen muss, erörtert die FPÖ offen auf über 100 Seiten: Die „zwei Geschlechter“ sollen per Verfassung festgeschrieben werden, Mindestsicherung nur an Staatsbürger ausgezahlt werden, „Remigration“ radikal durchgeführt und überhaupt eine Zweiklassengesellschaft hergestellt werden. Die FPÖ will sich im Falle eines Wahlsieges „die volle Verfügungsgewalt über die drei wesentlichen Elemente – Regierung, Raum und Volk – verschaffen“. Wir sagen: Demokratiefeindlicher und offen nationalsozialistischer kann eine Rhetorik nicht sein!

Falsche Vernunft
Doch warum auch die Absichten noch verschleiern? Bei den EU-Wahlen ist die FPÖ bereits stimmenstärkste Partei geworden, für Ende September erwarten alle Voraussagen bei den österreichischen Nationalratswahlen das Gleiche. Beunruhigend ist aber nicht nur diese Prognose, sondern die Gleichgültigkeit, mit der die Kunst- und Kulturszene dazu schweigt – als würde der Wahnsinn des Wahlprogramms im Fall eines Siegs am 29. September nicht umgesetzt, als würde eine bereits sturmreif geschossene EU, die unter unseren Augen zerbröckelt, auch diese Attacke noch überleben. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir uns mit falscher Vernunft und Überheblichkeit über die wahren Absichten der Rechten getäuscht haben.

Lassen wir nicht zu, dass aus Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit – noch einmal – Mitläuferinnen- und Mitläufertum wird! Denn wie bereits in der Slowakei und in Ungarn geschehen, wird die FPÖ in Österreich genau das tun, was sie ankündigt: Millionen Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse erklären, sie ausweisen, die republikanischen Institutionen zertrümmern, eine vielfältige Kunst- und Kulturlandschaft „heimisch“ gleichschalten. Kurz: die Demokratie und die freiheitliche Gesellschaft zum Verschwinden bringen.
Wir, das Team der Burgtheater-Produktion, sagen: Bis hierher und nicht weiter! Keine einzige Stimme der FPÖ!

(Elfriede Jelinek, Mavie Hörbiger, Birgit Minichmayr, Caroline Peters, Claus Philipp, Milo Rau, 3.9.2024)

MEMORIAL – Eine Ausstellung über das andere Russland

Nächste Station: ab Mai 2025 in München

Die Sonderausstellung wird bis zum 6. Januar 2025 im Bauhaus-Museum Weimar gezeigt. Der Eintritt ist frei.

Selten standen Umfang und Bedeutung einer Ausstellung so im Widerspruch wie die am 21. August im Bauhaus-Museum Weimar eröffnete Dokumentation zu MEMORIAL. 

In der Mitte des einzigen Raums zeigen Tischvitrinen wenige erschütternde Zeugnisse des Überlebenswillens und des Alltags aus den Nachlässen von Häftlingen, die in der Zeit des Stalinregimes zu Millionen in Lager verbannt worden waren. Begleittexte erläutern das Wirken der 1989 gegründeten und 2021 per Gerichtsbeschluß liquidierten Gesellschaft, die sich seit den Perestroika-Zeiten der Erinnerung und der Mahnung widmete. MEMORIAL war die wichtigste Organisation, die landesweit die Verbrechen des Stalinismus und der Repression in der Sowjetunion aufarbeitete und nach Jahrzehnten des Verschweigens die Rehabilitierung der Opfer einklagte. 

Seit Putin auch mit Menschenrechtsverletzungen und Geschichtsfälschungen sein Regime festigte, war MEMORIAL in Gefahr. Es kam zu bestellten Übergriffen durch rechte Schlägertrupps auf Büros und Archive. Aktivisten der Organisation wurden festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt, bis schließlich das Verbot erfolgte, Ein Video zeigt, wie die Eingangstüren mit Handschellen verschlossen wurden. Ein weiteres, wie einem der Begründer von Memorial, Oleg Orlow, ebenso Handschellen angelegt wurden. 

Oleg Orlow beim Prozess in Moskau am 27. Februar 2024. Wegen „wiederholter Diskreditierung der russischen Armee“ wird er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Foto von Sergej Karpuchin, TASS, aus der Ausstellung.

Die Texte der Ausstellung, die der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Volkhard Knigge gemeinsam mit Irina Scherbakowa initiiert hat, sind des Studiums wert, will man sich mit einem ernüchternden Report über Repression und Widerstand von der frühen Sowjetunion bis in die Zeit der Putindiktatur informieren. Irina Scherbakowa, die sich nur durch Flucht ins Exil vor der drohenden Verfolgung retten konnte und Oleg Orlow, im Februar zu Straflagerhaft verurteilt, im August im Rahmen eines Gefangenenaustauschs befreit und ausgewiesen – beide konnten an dieser Ausstellungseröffnung im Weimarer Bauhausmuseum teilnehmen. Sie würdigten, welche Bedeutung diese Ausstellung für alle hat, die sich in Rußland nur noch unter größter Gefahr zu den Zielen von MEMORIAL und zu ihrer Zuversicht auf eine demokratische Veränderung bekennen können.

Es bleibt zu hoffen, dass die Ausstellung in Weimar und später in anderen Städten viele Besucher findet. Im Sinne der Aufklärung ist sie unverzichtbar. 

Oleg Orlow und Irina Scherbakowa im Gespräch mit Staatsminister Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland und Schirmherr der Ausstellung. Im Hintergrund Ulrike Lorenz, Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Foto Manfred Mayer

„MEMORIAL – Das andere Russland“, Kolumne in der Frankfurter Rundschau vom 18.09.2024.

Nächste Stationen: Die Ausstellung „Das andere Russland. MEMORIAL: Der Kampf um Wahrheit und Demokratie“  wird laut Verein Zukunft Memorial e.V. ab Mai 2025 in München gezeigt: an der Hochschule KSH und ab Juni im Münchener Zentrum für Erwachsenenbildung. Ab September soll die Ausstellung dann in Potsdam zu sehen sein. 

AKTUELL: In einem Beitrag von Kerstin Holm informiert die FAZ vom 17. Januar 2025 darüber, dass laut einem Putin-Erlass das Moskauer Gulag-Museum liquidiert worden sei. Damit solle den Opfern von Staatsterror nicht mehr gedacht werden.
Das staatliche Museum der Geschichte des Gulag wurde bereits im vergangenen November – angeblich wegen Brandschutzmängeln – geschlossen und dem Moskauer Stadtmuseum zugeschlagen. Der vorige Direktor des Gulag-Museums, Roman Romanow, sei entlassen worden, „weil er sich Ende vergangenen Jahres geweigert hatte, in einer von seinem Haus erarbeiteten Sonderschau über das Leben Moskaus unter der Sowjetmacht den Teil über die politischen Repressionen zu entfernen, wie es Beamte des Kulturministeriums von ihm gefordert hatten.“ Nach dem Verbot von Memorial und dem Sa­charow-Zentrum wurde damit das letzte Museum liquidiert, das sich dem politischen Terror widmete.

Can Dündar: „Die türkische Regierung will uns zum Schweigen bringen“

Auf die Ergreifung von Can Dündar wurde ein Kopfgeld von 25.000 Euro ausgesetzt: „Es gibt keinen sicheren Ort für die Gegner von Erdogan“

Anfang Januar 2013 wurde bekannt, dass der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar von der Erdogan-Regierung auf eine Terrorliste gesetzt wurde, um ihn international zu jagen. Aus einem Artikel, den er für ZEIT ONLINE schrieb:

Der türkische Innenminister hatte meinen Namen auf die Liste der meistgesuchten Terroristen des Landes gesetzt, zusammen mit einem Foto, das ich vor etlichen Jahren einmal mit dem Antrag auf einen Reisepass eingereicht hatte.

Mein „Verbrechen“ besteht darin, dokumentiert zu haben, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan über seinen Geheimdienst heimlich Waffen an Dschihadisten in Syrien geliefert hatte. Diese Meldung wurde von zahlreichen internationalen Presseorganisationen aufgegriffen, brachte mir in der Türkei eine Haftstrafe von siebenundzwanzigeinhalb Jahren ein, eine Zeit lang Einzelhaft, ein fehlgeschlagenes Attentat auf mich, anschließend die Konfiszierung meines gesamten Hab und Guts – und hatte letztlich mein Exil zur Folge. Erdoğan aber schien all das nicht zu reichen. Nachdem der Bericht erschienen war, erklärte er: „Er wird einen hohen Preis dafür bezahlen.“ Um dieses Versprechen zu halten, nennt er mich jetzt einen Terroristen und stellt für die Unterstützung zu meiner Ergreifung eine Belohnung von 500.000 Lira in Aussicht, umgerechnet rund 25.000 Euro.

Es ist, als stünde die Türkei weniger vor einer Präsidentschaftswahl als vielmehr vor einem Kampf auf Leben und Tod. Den Informationskrieg im Vorfeld dieser vorgezogenen Wahlen, die voraussichtlich Ende April stattfinden werden, versucht Erdoğan mit seiner Menschenjagd noch zu verhindern. Er hat so viele Personen, die gegen ihn opponieren, ungünstig über ihn berichten oder Informationen durchstechen, zu Terroristen erklärt, dass die Anzahl der Terrorverdächtigen mittlerweile auf fast zwei Millionen geschätzt wird. Das macht die Türkei inzwischen zum Land mit der größten Anzahl an Terroristen auf der Welt. Natürlich gibt es keine Überzahl an Terroristen, sondern es gibt Erdoğans Terrorismusdefinition. Das sorgt nicht nur in der Türkei für Debatten, sondern auch in zahllosen Ländern, in Deutschland, Schweden, Finnland und auch in der Ukraine.

Hier finden Sie den vollständigen Text in ZEIT ONLINE.

Wolfgang Thierse im „Vorwärts“: Verdammung der SPD-Entspannungspolitik ist falsch

In der Debatte über die deutsche Haltung zu Russland warnt Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem Beitrag im „Vorwärts“ (22.04.2022) vor einer Verteufelung der SPD-Entspannungspolitik. Sie sei eine Erfolgsgeschichte gewesen. Und werde – nach Putin – vielleicht wieder gebraucht.

Das ist tatsächlich ein historischer Einschnitt: Das Undenkbare, das Unfassbare ist geschehen – ein brutaler Krieg in unserer Nachbarschaft, in Europa. Es gibt keinen anderen Vergleich: Wie Hitler-Deutschland 1939 das Nachbarland Polen überfallen hat, so führt Putin-Russland einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine. Und verletzt alle Regeln und Verträge, die bisher die europäische Friedensordnung ausgemacht haben, missachtet das internationale Recht, zerstört mit der Ukraine auch den europäischen Frieden. Putin führt mit steigender Brutalität Krieg und begeht Brudermord. Die täglichen Bilder davon – erst recht die von Kriegsverbrechen – machen traurig und zornig und verzweifelt. Sie müssen Anlass für kritisches, auch selbstkritisches Nachdenken sein. Und auch für politische Konsequenzen und Neuorientierungen, wie sie Bundesregierung und Kanzler Scholz begonnen haben.

CDU/CSU tut, als wäre sie nie dabei gewesen

Der emotionale Schock also ist verständlich, aber sind es die moralischen Schuldzuweisungen an die SPD auch, mit denen sich jetzt Politiker und Journalisten Tag für Tag geradezu überbieten? In einer Art negativer Euphorie wird nahezu alles verdammt und verteufelt, was vor dem 24. Februar deutsche und westliche Politik gegenüber Russland war, personifiziert in Frank-Walter Steinmeier, der nicht nur vom ukrainischen Botschafter attackiert wird. Und CDU/CSU tun so, als wären sie nie dabei gewesen, obwohl doch die Kanzlerin und alle Verteidigungsminister der vergangenen 16 Jahre CDU-Mitglieder waren. Nein, Steinmeier ist Repräsentant einer Politik, die in den vergangenen Jahrzehnten quer durch alle demokratischen Parteien betrieben wurde und die von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde: der Entspannungspolitik! Ich halte sie gegen alle aktuellen Verteufelungen für eine Erfolgsgeschichte.

Nicht Panzer brachten die Sowjetunion zu Fall

Erinnern wir uns: Nicht Krieg, nicht Bomben und Panzer haben zum Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums geführt, sondern die Soft-Power und ökonomische Kraft des Westens (und natürlich Gorbatschow und die zivilgesellschaftlichen Oppositionen im östlichen Teil Europas). Auf der Basis westlicher Stärke (und auch des Abschreckungspotentials der USA) und der Kooperationsbereitschaft einer defensiv gewordenen Sowjetunion konnten Egon Bahr und Willy Brandt ihr Konzept der Entspannungspolitik verwirklichen: Wandel durch Annäherung/gemeinsame Sicherheit.

Die KSZE und die Helsinki-Schlussakte waren ein erster großer Schritt zu einer europäischen Friedensordnung unter den Bedingungen des gefährlichen Ost-West-Systemgegensatzes. Die Einebnung der Schützengräben des Kalten Krieges zählte zu den Voraussetzungen für die friedlichen Revolutionen und die Überwindung der kommunistischen Diktaturen. Es folgten 1990 die Charta von Paris, die die neue Friedensordnung Europas ausrief, zu der ausdrücklich die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Souveränität der Staaten und die freie Bündnisentscheidung gehörten. Es folgten die Budapester Vereinbarung von 1994 und die NATO-Russland-Akte von 1997. (Sie alle tragen die Unterschrift Russlands!)

Putin beendete den Frieden in Europa

Wir Deutsche, wir Europäer konnten nach 1990 mit starken, guten Gründen meinen, dass Frieden in Europa dauerhaft möglich sei, dass wir Deutsche – umzingelt von Freunden – in einem Zustand historischen Glücks leben könnten. Dieses friedliche Kapitel der europäischen Geschichte ist von Putin abrupt beendet worden. Bis zum 24. Februar konnten wir Europäer glauben, dass Vereinbarungen gelten, dass wirtschaftliche Verflechtungen friedenssichernde Wirkungen haben und gute Sicherheitspolitik sind. – So wie ja auch die westeuropäische Einigung seit den 50er Jahren wirtschaftliche Verflechtung als Basis hatte. War es gutgläubig, mit Russland und mit Putin im Gespräch zu bleiben? Sind die Versuche falsch gewesen, weil sie jetzt gescheitert sind? Es waren Putins Lügen und Täuschungen, sein verbrecherischer Krieg, die aus unseren berechtigten europäischen Hoffnungen böse Illusionen gemacht haben: Das Europa ein dauerhaft friedlicher Kontinent werden und sein könnte. Die Enttäuschung darüber sollte nicht dazu führen, alle Ideen, Konzepte, Instrumente der Entspannungspolitik in die Rumpelkammer der Geschichte zu kippen. Vielleicht werden wir einige nach dem Krieg und nach Putin wieder brauchen?

Friedenspolitik bleibt weiter nötig

Ja, Friedenspolitik kann scheiten – jetzt an dem brutalen Aggressor Putin. Aber das macht sie nicht falsch. In der Tradition der Entspannungspolitik haben auch und gerade sozialdemokratische Außenminister den immer mühseligen Versuch unternommen, mit dem schwierigen, aber eben gewichtigen Partner Russlands im Gespräch zu bleiben, die Beziehungen zu pflegen, wie das andere westliche Länder ja auch taten. Es war vernünftig, mit ihm in Verhandlungsprozessen zu bleiben, das Minsker Abkommen zu schließen, im Normandie-Format Kompromisse zu suchen, um den sich zuspitzenden Konflikt nicht noch heißer werden zu lassen. Diese Bemühungen bis an die Grenze der Selbstdemütigung waren schließlich auf den gefährdeten Frieden gerichtet. Nach deren Scheitern spätestens am 24. Februar sind Ernüchterung und selbstkritisches Rückfragen angebracht. Nicht aber die moralische Verdammung all dieser Friedensbemühungen! Wir Sozialdemokraten sollten uns dagegen wehren und zugleich an der (Wieder-)Herstellung einer verlässlichen europäischen/globalen Friedensordnung arbeiten –  mit einem Russland nach Putin. Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Welt sich den eigentlichen Menschheitsproblemen widmen kann: dem Klimawandel, der Umweltzerstörung, der weltweiten Armut und sozialen Ungerechtigkeit. Wie auch die Lösung dieser Aufgaben Voraussetzung für globalen Frieden ist.

Fähigkeit zur Selbstverteidigung unverzichtbar

Die Selbstverteidigungsfähigkeit des demokratischen Europas und seine Kooperationsbereitschaft sind gleichermaßen notwendige und vernünftige Beiträge zu einer neu zu gewinnenden globalen Friedensordnung. Das wird unendlich viel größere Anstrengungen verlangen, als wir es uns bisher vorzustellen vermögen.

Link zum Beitrag im „Vorwärts“ vom 22.04.2022

„Wir brauchen zumindest einen kalten Frieden“

Sigmar Gabriel zu Deutschlands Haltung im Ukrainekrieg

Sigmar Gabriel hat in einem Debattenbeitrag für den SPIEGEL am 17. April 2022 die Irritation beschrieben, die durch die beispiellose Ausladung von Bundespräsident Steinmeier durch die Kiewer Regierung entstanden ist. Zwar äußert er Verständnis, dass in Anbetracht des „Zerstörungs- und Mordwahns der russischen Soldateska“ die bisherige deutsche Russland- und Energiepolitik kritisiert wird, doch seien Verschwörungstheorien über die Politik der Bundesregierung und der deutschen Verantwortungsträger nicht hinnehmbar. „Dazu zählt die auch von deutschen Medien wiedergegebene Behauptung, Steinmeier, seine Nachfolger im Amt und die Bundeskanzlerin seien quasi voraussetzungslos für den Abbau der nach der russischen Annexion der Krim verhängten Sanktion eingetreten.“

Dies war an die Einhaltung des Waffenstillstands durch Russland und den Rückzug seiner schweren Waffen aus der Ostukraine sowie die Zustimmung zu Uno-Friedenstruppen in der gesamten Ostukraine gebunden. Die Beendigung des seit 2014 durch Russland massiv unterstützten Krieges im Osten der Ukraine und die Kontrolle durch bewaffnete Uno-Soldaten hätte vermutlich die heutige Katastrophe vermieden. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte einen solchen Schritt vorgeschlagen. 

„Es gehört zu den Tragödien dieses Krieges, dass dieser Vorschlag nie mit wirklichem Einsatz von allen Beteiligten weiterverfolgt wurde, weil etwa zeitgleich der russische Präsident ebenfalls ein Uno-Mandat vorschlug – ähnlich aber nur in der Sprache und leider nicht im Inhalt. Der ernsthafte Wille zur Einigung auf ein solches Mandat war nicht erkennbar.“

Sigmar Gabriel nennt die Behauptung des ukrainischen Botschafters Melnyk, Bundespräsident Steinmeier habe in seiner aktiven Zeit als Politiker „seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft“, die bis in die heutige Regierung hineinwirkten, eine „weitaus gefährlichere Variante der Verschwörungstheorien“. Der Vergleich mit einem Spinnennetz insinuiere, „dass der frühere Kanzleramts- und Außenminister die Interessenvertretung Russlands in Deutschland mit organisiert habe“.

Melnyk argumentiere wahrheitswidrig und bösartig, weil Außenminister Steinmeier gemeinsam mit der damaligen Bundeskanzlerin Merkel „mehr als alle anderen in Europa dafür getan hat, die Ukraine zu unterstützen. Und deshalb muss man der Falschdarstellung öffentlich auch dann widersprechen, wenn man der Ukraine in der aktuellen Situation nicht nur mit Geld und guten Worten, sondern auch mit Waffen zur Seite stehen will.“

Gabriel führt zahlreiche Beispiele an, wie der heutige Bundespräsident – gemeinsam mit der Bundeskanzlerin – gegen Russland und Präsident Putin Positionen der Ukraine vertreten und einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet habe, „Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen, um mit den Verträgen von Minsk einen von beiden Seiten akzeptierten Weg heraus aus dem Krieg zu ebnen“.

„Dass diese Minsker Verträge nie wirklich eingehalten wurden, liegt ganz gewiss nicht an Frank-Walter Steinmeier oder an den Patronatsstaaten Deutschland und Frankreich. Der damalige ukrainische Präsident war nur unter dem Druck einer unmittelbar bevorstehenden schweren militärischen Niederlage zur Unterschrift bereit. Die politischen Vertreter der Ukraine haben deshalb nie so etwas wie »Ownership« für die Minsker Abkommen entwickelt, was wiederum die russische Führung ihrerseits nutzte, um sich ihrer Verantwortung für die Umsetzung der Abkommen zu entziehen.

Bis heute sind die Minsker Abkommen Gegenstand der innenpolitischen Auseinandersetzung in der Ukraine. Wer für die Minsker Abkommen Verantwortung trägt, gilt als Verräter. Deshalb droht dem früheren Präsidenten Petro Poroschenko jetzt eine Anklage wegen Hochverrat.

Wer die damalige Mission der OSZE in der Ostukraine besuchte, dem wurden die täglichen Brüche der Waffenstillstandsabkommen von beiden Seiten immer wieder drastisch geschildert. Es ist deshalb geradezu absurd, die damaligen diplomatischen Bemühungen Deutschlands und Frankreichs um eine friedliche Konfliktlösung im Donbass rückblickend in Grund und Boden zu kritisieren.“

Es werde einen »Tag danach« geben und es brauche Ideen, „wie eigentlich ein weniger »kalter Frieden« zwischen Russland und der Ukraine aussehen könnte.“

Die massive Kritik des ukrainischen Präsidenten treffe nicht nur Steinmeier als deutschen Bundespräsidenten sondern auch die frühere Kanzlerin Angela Merkel, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und auch seinen Amtsvorgänger Petro Poroschenko. „Alle stehen für die Minsker Verträge, die als Weg zur friedlichen Lösung des Konflikts in der Ostukraine eine Art regionaler Teilautonomie unter Wahrung der Staatszugehörigkeit zur Ukraine vorsahen. Exakt diesen Weg will der heutige ukrainische Präsident ausschließen, denn schließlich hat er seine Wahl auch der massiven Kritik an seinem Amtsvorgänger wegen dessen Zustimmung zu den Minsker Abkommen zu verdanken.“

Es gehe also nicht vordergründig um einen außenpolitischer Dissens über die frühere Russlandpolitik Deutschlands, dies sei auch ein Teil des innenpolitischen Meinungskampfes in der Ukraine.

Außenpolitik und Diplomatie könne nicht auf Dauer von Panzern und Raketen ersetzt werden. Letztlich habe man keine Alternative als den Raum für denkbare Verständigung zu vermessen.

„Gustav Stresemann handelte so und erreichte damit einst die Aussöhnung Deutschlands nach Westen. Willy Brandt erreichte auf diesem Weg die Aussöhnung nach Osten und schuf zugleich die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung.“

Deutschland stehe in voller europäischer Solidarität an der Seite der Ukraine – politisch, finanziell und auch militärisch, könne sich aber nicht jede Forderung der Ukraine zu eigen machen. Man sei sich in Deutschland der Konsequenzen einer Ausweitung dieses Krieges bewusst. Deshalb sei es richtig, dass die deutsche Bundesregierung schwere Waffen nur in Abstimmung mit der Vereinigten Staaten von Amerika an die Ukraine liefern kann, damit die Grenze zur eigenen aktiven Kriegsteilnahme gegen Russland nicht überschritten wird.

„Die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen und zugleich über den »Tag danach« nachzudenken, ist kein Widerspruch, sondern verbindet das Notwendige im Heute mit dem Hinreichenden im Morgen. Frank-Walter Steinmeier hat in all seinen Reden betont, dass Verhandlungen nicht aus einer Position der Schwäche geführt werden können und militärische Stärke nötig ist, um Frieden und Freiheit zu sichern. Deshalb hat er dem Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, ebenso zugestimmt wie der Stationierung der Bundeswehr in Litauen.

Dafür steht der Außenpolitiker Frank-Walter Steinmeier ebenso, wie er als Bundespräsident ein Staatsmann ist, der mit Ausdauer und Augenmaß die politische Lösung sucht. Ihn für diese Haltung zu kritisieren, ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch gefährlich. Weil der Frieden anders nicht erreicht werden kann.“

Der Beitrag von Sigmar Gabriel im vollen Wortlaut: 

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sigmar-gabriel-wir-brauchen-zumindest-einen-kalten-frieden-gastbeitrag-a-411895f4-557e-42e7-9453-c62baa490d82

Interview mit Sigmar Gabriel u.a. über die Reaktion von Botschafter Melnyk auf den Spiegel-Artikel im Deutschlandfunk am 20.04.2022: 

https://www.deutschlandfunk.de/interview-sigmar-gabriel-spd-zu-streit-mit-ukrainischem-botschafter-melnyk-dlf-8e7d0407-100.html

Rede von Martin Pollack

per ZOOM am 6. März 2022 zur Demonstration auf dem Berliner August-Bebel-Platz eingespielt

Screenshot der ZOOM-Aufnahme für die Demonstration am 6. März 2022 auf dem Berliner August-Bebel-Platz

Der polnische Publizist und ehemalige Dissident Adam Michnik hat vor kurzem zum Krieg in der Ukraine gesagt, „heute müssen wir klar und offen eines sagen: wir sind alle Ukrainer!“
Dem möchte ich mich aus ganzem Herzen anschließen. Putin erklärt in diesen Tagen, Russland müsse sich verteidigen, Russland müsse seine Bürger im Donbas schützen, Russland müsse die Ukraine entnazifizieren – was immer er damit meint. Diese alles auf den Kopf stellende Täter-Opfer-Umkehr, die kennen wir aus unserer eigenen Geschichte. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich stamme aus einer Familie überzeugter Nationalsozialisten. Mein Vater war ein Täter, so wie es heute in Russland viele Täter gibt, der sich im wahrsten Sinne des Wortes die Hände blutig gemacht hat und unbewaffnete Zivilisten, Polen, Slowaken vor allem aber Juden ermordet hat. Das Narrativ in meiner Familie auch nach 1945 lautete ganz ähnlich wie das von Putin heute: Wir sind die Opfer, wir müssen uns zur Wehr setzen! Die anderen, die Juden und die Polen, die Russen sind die Aggressoren, die uns den Krieg aufzwingen.
So lügt auch Putin der Welt heute schamlos ins Gesicht. Und es gibt in unseren Ländern immer noch Menschen, Politiker, Vertreter der Wirtschaft, die Verständnis für ihn äußern. Diese Leute, unsere Politiker, haben Putin zu lange, viel zu lange, hofiert. Nicht, weil sie den Frieden bewahren möchten, weil sie Brücken bauen möchten, wie sie gern behaupten, sondern aus blanker Gier. Weil sie lukrative Geschäfte machen wollen. Diese Geschäfte haben sie jahrelang betrieben und wir haben ihnen dabei zugeschaut, wir haben nicht oder viel zu leise dagegen protestiert. Damit muss Schluss sein. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen. Das sind wir unseren ukrainischen Freunden schuldig. Gerade heute, da Putin die Ukraine mit einem vernichtenden Krieg überzieht, da dort Zivilisten, Frauen, Kinder und Alte ermordet werden. Denn, diese Menschen in der Ukraine, sie kämpfen auch für uns. Sie kämpfen für unsere Freiheit, für die Demokratie. Sie kämpfen für die ganze freie Welt.
Europa, die ganze Welt, muss endlich erwachen. Solidarität mit der Ukraine. Slava Ukrajini!

Rede von Karl Schlögel

am 6. März 2022 auf dem Berliner August-Bebel-Platz

Screenshot von Youtube, Demonstration am 6. März 2022 auf dem Berliner August-Bebel-Platz

Wir haben zu dieser Kundgebung aufgerufen, weil wir keinen anderen Weg wußten, unserer Empörung, unserer Wut, unserer Fassungslosigkeit, unserer Solidarität mit der kämpfenden Ukraine Ausdruck zu verleihen.
Es ist eine Geste der Ohnmacht, der Hilflosigkeit. Wir sind bestürzt, weil wir Zuschauer sind, die wir nicht sein wollen, die wir aber lange genug waren. „Wir haben es uns nicht vorstellen können“ – war die rhetorische Formel der letzten Tage. Ja, und wir können uns nicht vorstellen, was noch kommen wird. Die Bilder von der neuen Ukraine, die wir seit der Revolution auf dem Maidan im Kopf hatten, werden nun mit Blut getränkt und mit Trümmern übersät. Die Ukraine war nach dem Ende der Sowjetunion ein anderes Land geworden – bei allen Schwierigkeiten. Ein Land, das sich an die Arbeit gemacht hatte, das nichts wollte, als in Ruhe gelassen zu werden.
Der neue Glanz Kiews, das moderne Charkiw, Odessa als Sehnsuchtsort, Lemberg im Aufbruch von Hightech und Tourismus. Eine Nation, so lange am Rand der europäischen Wahrnehmung hatte endlich ihren Platz im Horizont der Europäer gefunden, war endlich heraus aus dem Schatten der Sowjetunion und Russlands.
Nun soll das alles ungeschehen gemacht werden. Was Putin mit der Ukraine vorhat, hat er bereits vorgeführt. Er hat im Tschetschenien-Krieg Grozny dem Erdboden gleichgemacht, er hat das viertausendjährige Aleppo in Schutt und Asche gelegt. Aber er bleibt nicht stehen beim Urbizit.
Bis vor kurzem noch unvorstellbar sind Nuklearanlagen Kriegsziel geworden. Saporischshja, das größte Atomkraftwerk Europas liegt dort, wo in den 1920ern Dneproges, damals der größte Staudamm Europas, errichtet worden war. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Damm zweimal gesprengt, das Industrieland zurückgebombt in die Steinzeit. Charkiw, zweimal von den Deutschen erobert und zerstört, wird nun von russischen Raketen zerstört. Das Land, schon einmal verheert durch den millionenfachen Hungermord der 1930er Jahre ist in diesen Tagen wieder zum Land geworden, in dem in diesem Jahr keine Aussaat mehr möglich ist, es also auch keine Ernte geben wird.
Wir konnten es uns nicht vorstellen, dass die Kathedralen des Kiewer Höhlenklosters hoch über dem Dnjepr noch einmal gesprengt werden könnten. Auf den Fotos erkennen wir die Bahnhöfe mit den Hunderttausenden von Fliehenden; von dort waren schon einmal Millionen ukrainischer Männer und Frauen zur Sklavenarbeit ins Deutsche Reich abtransportiert worden. Und nie hätten wir uns vorstellen können, dass einmal Trümmer des Kiewer Fernsehturms auf das Gelände von Babin Jar herabstürzen würden, wo im September 1941 über 33 000 Kiewer Juden ermordet wurden.
Auf die Bilder der deutschen Verbrechen in der Ukraine folgen nun die Bilder von den russischen Kriegsverbrechen heute. Jeder Ukrainer weiß, was es heißt, wenn Städte eingekesselt und in Blockaden ausgehungert werden.

Wir haben lange, zu lange der Chronik eines angekündigten Krieges zugesehen. Es war bequemer wegzusehen, wo wir doch alle gelernt hatten, dass man niemals wegsehen und zusehen darf, wenn Böses geschieht. Es hieß immer, man solle Putin nicht dämonisieren. Was er, der die Ukraine als selbständigen Staat, als eigenständige Nation vernichten will, in der Ukraine vorhat, kann man dieser Tage in Russland studieren. in Putins Drittem Imperium, das auf das Russische und das Sowjetische folgen soll, herrscht ein Totalitarismus neuen Typs. An die Stelle geschichtlicher Erinnerung, derer das Land so dringend bedarf, sind Mythen, Zensur, Hassreden getreten. Ein großer Exodus hat eingesetzt. Putin hat das Land in die Sackgasse geführt und er ist offensichtlich bereit, es mit in den Abgrund zu reißen.
Aber, es wäre nicht das erste Mal, dass ein sinnloser, opferreicher, verbrecherischer Krieg ein Regime zu Fall bringt. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass der Wahnsinn dieses Krieges spurlos an Russland vorübergehen wird. Sicher ist es aber, dass es  derzeit die Ukrainer und die Ukrainerinnen sind, die Putins Krieg Einhalt gebieten. Sie haben schon jetzt sein Kalkül auf einen kleinen, schnellen Krieg zunichte gemacht und sie bezahlen den Preis, den die Europäer, der Westen oder das, was der Westen einmal war, zu zahlen nicht bereit war.
Das Wenigste, was wir an dieser Stelle heute tun können, ist den Ukrainern und Ukrainerinnen im Augenblick tödlicher Bedrohung zuzuhören und zu helfen, wo immer wir können. Slava Ukrajini!

Aufruf Für Eure und für unsere Freiheit!

Aufruf zur Demonstration am Sonntag, 6. März, 14 bis 17 Uhr, auf dem Berliner August-Bebel-Platz

Wir können nicht länger warten. Seit dem frühen Morgen des 24. Februar 2022 führt Putin Krieg gegen die unabhängige Ukraine und ihre Bevölkerung. Soldaten und Panzer dringen ins Land vor. Putin lässt Städte mit Raketen und Bomben beschießen. Die Etappen seiner Kriegsführung sind aus der Geschichte bekannt: Belagerung, Zerstörung, Vernichtung. Wir kennen sie von Grosny und Aleppo.

Putins Angriff auf die Ukraine ist der Angriff auf ein Land, das geschichtlich, sprachlich, kulturell ein Europa im Kleinen ist. Selbstverständlich zweisprachig und multikonfessionell. Kiew, Odessa, Lemberg, Charkiw sind europäische Metropolen, die alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts, zuerst die des Stalinismus, dann die der deutschen Herrschaft überlebt haben. Nun sind der Krieg und der Terror in die Ukraine zurückgekehrt.
Die Wahrheit über diesen Krieg kommt trotz Zensur und Propaganda inzwischen auch in Russland an. Die Bilder von den Bombeneinschlägen im Zentrum von Charkiw, von den Rauchwolken über den Wohnvierteln von Kiew, von den Toten und von den Millionen auf der Flucht.
Ob in Warschau, Paris, Sarajevo oder Berlin: Wir dürfen nicht schweigen. Wir müssen den Angegriffenen in Worten und Taten beistehen. Der Krieg ist zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Wir müssen die Urheber der Kriegsverbrechen benennen. Wir dürfen den vor Gewalt und Krieg Fliehenden nicht unsere Hilfe verweigern.
Lasst uns unsere Sympathie und Solidarität mit dem Volk der Ukraine demonstrieren. Hören wir ihren Stimmen zu. Lassen Sie uns in Worte fassen, was wir im Augenblick der Not empfinden und über die Grenzen hinweg miteinander in Kontakt treten: analog und digital, mit Wort und Musik, im offenen Raum, im Zentrum Berlins. Im Kampf für Eure und für unsere Freiheit!
Es sprechen Swetlana Alexijewitsch, Karl Schlögel, Juri Andruchowitsch, Katja Petrowskaja, Jurko Prochasko, Martin Pollack, Kateryna Mishchenko
Für Musik sorgt DJ Yuiy Gurzhy.

Karl Schlögel, Gerd Koenen, Claus Leggewie, Katharina Raabe, Manfred Sapper, Ulrich Schreiber

Verantwortlich: Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V. Berlin

Wir dokumentieren die Statements der Historiker und Publizisten Karl Schlögel und Martin Pollack, deren Bücher seit Jahren für Reisende in die Ukraine und nach Osteuropa unersetzliche Lektüre sind.

Die Rede von Karl Schlögel, er war Hochschullehrer in Konstanz und an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Seine Forschungsschwerpunkte sind russische Moderne und Stalinismus, russische Diaspora und Dissidentenbewegung, Kulturgeschichte osteuropäischer Städte.

Die Rede von Martin Pollack, österreichischer Journalist, Schriftsteller und Übersetzer, schrieb u.a. über die Geschichte Galiziens und den autobiographischen Bericht über seinen Vater, den SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, Chef der Linzer Gestapo und Kriegsverbrecher, Der Tote im Bunker.

Der ukrainische Germanist und Autor Jurko Prochasko war aus Lwiw/Lemberg zugeschaltet. In seiner Rede sprach er über den Großraschismus, eine Kombination aus Großrussentum und Faschismus: „Der Putinismus, der sich in diesen Tagen zur totalitären Diktatur entwickelt, gibt sich gern erratisch und vieldeutig, ist aber im Kern leicht auszumachen: chauvinistischer Imperialismus, völkischer Mystizismus, messianischer Größenwahn, eschatologischer Revanchismus, apokalyptischer und militaristischer menschen- und lebensverachtender Macht- und Führerkult, tiefste Verachtung für Recht und Freiheit und Selbstbestimmung.“

Die gesamte Veranstaltung auf Youtube.